Der Rechtsstaat im Stresstest: Eine kritische Würdigung des "Justiz-Projekts" (Teil 3)
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Die goldene Leine der Exekutive: Das Haushaltsrecht als verkanntes Machtinstrument
„Wer zahlt, schafft an.“ Diese banale Weisheit gilt, wenn man die verfassungsrechtliche Romantik beiseitelegt, auch im Verhältnis der Staatsgewalten. Das dritte große Kapitel des „Justiz-Projekts“ widmet sich dem wohl wirkmächtigsten, aber in der akademischen Debatte am stiefmütterlichsten behandelten Hebel der Justizsteuerung: dem Geld. Die Analyse, die Jakob Weickert und seine Mitstreiter hier vorlegen, ist von einer ernüchternden Klarheit. Sie demonstrieren, dass die Unabhängigkeit der Justiz dort endet, wo der Haushaltsplan beginnt. Für den liberalen Verfassungsstaat ist dieser Abschnitt eine Lektion in Realismus – und zugleich ein Dokument des Versagens der etablierten Politik, die Dritte Gewalt finanziell emanzipiert aufzustellen.
I. Defunding als Schreckgespenst und Realität
Das Szenario, das die Autoren entwerfen, ist beklemmend simpel: Ein autoritär-populistischer Justizminister nutzt die Haushaltsaufstellung, um missliebige Gerichte finanziell auszutrocknen („Defunding“) oder gezielt jene Standorte mit Mitteln zu überhäufen, die im Sinne der Regierung urteilen (S. 250 ff.). Als warnendes Beispiel dient der Verweis auf die USA, wo unter dem Schlagwort „DOGE“ (Department of Government Efficiency) und der Führung von Figuren wie Elon Musk ein radikaler Rückbau staatlicher Strukturen droht (S. 255).
Die Analyse ist treffend, doch ihre politische Rahmung ist schief. Das „Justiz-Projekt“ tut so, als sei die finanzielle Aushungerung der Justiz eine Erfindung populistischer Strategen. Das Gegenteil ist der Fall. Die chronische Unterfinanzierung der deutschen Justiz, der Sanierungsstau in den Gerichtsgebäuden und die jahrelang verschleppte Digitalisierung sind das Werk der „demokratischen Mitte“. Wenn die Autoren selbst konstatieren, dass die Justiz vielerorts über mangelhafte Ausstattung klagt und Umfragenzufolge die technische Ausstattung als „sehr schlecht“ bewertet wird (S. 253), dann ist das kein hypothetisches Szenario für 2029, sondern die Bilanz der Sparpolitik von CDU/CSU, SPD, FDP, Linkspartei und Grünen der letzten zwei Jahrzehnte.
Der „Pakt für den Rechtsstaat“ (S. 254), der nun als Rettungsanker beschworen wird, war kein Akt vorausschauender Resilienz, sondern eine Notoperation am offenen Herzen eines kollabierenden Patienten. Wenn das Projekt nun davor warnt, dass Populisten diesen Mangelzustand instrumentalisieren könnten, ist das richtig. Aber die Verwundbarkeit wurde nicht von der AfD geschaffen, sondern von Finanzministern, die die Justiz primär als Kostenstelle und nicht als Standortfaktor begriffen haben. Die Empörung über mögliches „Defunding“ wirkt daher wohlfeil, wenn sie aus jener Ecke kommt, die jahrelang „Effizienzrenditen“ und Stellenabbaupfade exekutiert hat.
II. Die Tyrannei der Bewirtschaftungsbefugnis
Dogmatisch brillant ist die Analyse der haushaltsrechtlichen Feinmechanik. Die Autoren legen den Finger in die Wunde des deutschen Haushaltsrechts: Das Parlament beschließt zwar den Haushalt (das „Königsrecht“, S. 250), aber die Exekutive vollzieht ihn. Die Justiz ist hierbei keine eigenständige Gewalt, sondern ein nachgeordneter Bereich des Justizministeriums.
Das Szenario zeigt auf, wie ein Ministerium über die „Bewirtschaftungsbefugnis“ (S. 256) die Gerichte gängeln kann. Es muss gar keine Mittel streichen; es reicht, sie nicht freizugeben. Eine Haushaltssperre hier, eine verweigerte Deckungsfähigkeit dort, und schon kann ein Gerichtspräsident keine neuen Laptops mehr bestellen oder Reparaturen beauftragen. Besonders perfide ist die Möglichkeit, Stellen im Haushaltsplan zwar auszuweisen, aber die zu ihrer Finanzierung nötigen Mittel nicht bereitzustellen (S. 252). Das ist administrative Sabotage in Reinkultur.
Die Autoren zitieren einen Obergerichtspräsidenten mit dem Satz: „Wir würden wahrscheinlich in kürzester Zeit die Arbeitsfähigkeit verlieren“ (S. 254). Dieser Satz sollte jedem Verfassungsrechtler schlaflose Nächte bereiten. Er belegt, dass die Justiz am Tropf der Exekutive hängt. Die im Grundgesetz postulierte Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 GG) wird auf der Ebene der Ressourcenverteilung faktisch aufgehoben. Die Exekutive kontrolliert die materielle Basis der Judikative. Dass dieser Zustand verfassungswidrig sein könnte, wird in der deutschen Staatsrechtslehre zwar diskutiert, aber vom Bundesverfassungsgericht bislang nicht mit der notwendigen Härte entschieden. Das „Justiz-Projekt“ hat Recht, wenn es feststellt: „Und wir haben kaum ein Instrumentarium“ (S. 271).
III. Der hilflose Rechtsgewährungsanspruch
Besonders ernüchternd ist der Befund zur Justiziabilität dieser Angriffe. Zwar leiten die Autoren aus Art. 19 Abs. 4 GG (Rechtsgewährungsanspruch) und Art. 97 GG (richterliche Unabhängigkeit) eine Pflicht des Staates zur „funktionsadäquaten Ausstattung“ der Justiz ab (S. 264). Doch dieser Anspruch ist ein stumpfes Schwert. Solange der Gerichtsbetrieb nicht vollständig zusammenbricht, gesteht die Rechtsprechung dem Haushaltsgesetzgeber einen weiten Einschätzungsspielraum zu. Eine „optimale“ Ausstattung kann nicht eingeklagt werden.
Hier zeigt sich die Grenze des „juridischen Konstitutionalismus“. Man kann politische Prioritätensetzungen – und jeder Haushalt ist eine solche – nicht vollständig verrechtlichen. Wenn eine demokratische Mehrheit entscheidet, lieber Geld für Verteidigung oder Infrastruktur auszugeben als für die Justiz, ist das zunächst ein legitimer politischer Gestaltungswille. Das „Justiz-Projekt“ versucht, hiergegen eine verfassungsrechtliche Haltelinie einzuziehen. Das ist ehrenwert, birgt aber die Gefahr, die Justizfinanzierung der demokratischen Debatte zu entziehen und sie zu verabsolutieren. Nicht jede Sparmaßnahme ist ein Anschlag auf den Rechtsstaat. Die Autoren laufen Gefahr, legitime fiskalische Zwänge (Schuldenbremse!) vorschnell als „autoritäre Strategie“ zu framen, sobald sie die Justiz treffen.
IV. Organstellung der Gerichte: Ein konservatives Desiderat
Umso bemerkenswerter sind die Lösungsvorschläge, die das Projekt präsentiert. Es plädiert für eine „Organstellung“ der Gerichte im Haushaltsverfahren und eine eigene Budgethoheit, losgelöst vom Justizministerium (S. 265). Die Gerichte sollen ihren Haushalt selbst anmelden und bewirtschaften, ähnlich wie es das Bundesverfassungsgericht oder der Bundesrechnungshof bereits tun.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass diese Forderung nun aus der Feder von Autoren stammt, die sich als progressiver „ziviler Verfassungsschutz“ verstehen. Denn die Forderung nach finanzieller Autonomie der Justiz ist ein uraltes Anliegen konservativer Richterbünde und liberaler Rechtspolitiker, das jahrzehntelang von der sozialdemokratischen und grünen Ministerialbürokratie als „Staat im Staate“ bekämpft wurde. Die Exekutive – gleich welcher Couleur – gibt ungern Macht ab.
Wenn das „Justiz-Projekt“ nun fordert, die Stellung der Gerichte im Haushaltsplan durch „eine Regelung zur eigenen Mittelverwaltung [...] in den Haushaltsplänen, ggf. sogar im Haushaltsgrundsätzegesetz“ zu stärken (S. 295, Zusammenfassung), rennt es offene Türen bei jedem ein, der die Gewaltenteilung ernst nimmt. Es ist jedoch bedauerlich, dass erst das Schreckgespenst der AfD notwendig war, um diese verfassungsrechtliche Selbstverständlichkeit auch im linken wissenschaftlichen Spektrum salonfähig zu machen.
Die Autoren schlagen als „Kompromiss“ vor, zumindest eine „parallele Parlamentsvorlage“ der Finanzanmeldungen der Gerichte vorzusehen (S. 266). Das Parlament soll wissen, was die Gerichte gefordert haben, bevor das Finanzministerium den Rotstift ansetzte. Das ist ein Gebot der Transparenz und der Ehrlichkeit. Es würde den Parlamentariern die Ausrede nehmen, sie hätten von den Nöten der Justiz nichts gewusst. Doch Transparenz allein schafft noch kein Geld. Ohne eine verfassungsrechtliche Absicherung eines Mindestbudgets – etwa orientiert am Bruttoinlandsprodukt oder am Gesamthaushalt – bleibt die Justiz Bittsteller.
V. Fazit des dritten Teils
Das Kapitel zum Haushalt ist das stärkste und zugleich politischste des gesamten Projekts. Es entlarvt die finanzielle Abhängigkeit der Justiz als die eigentliche Achillesferse des Rechtsstaats. Die detaillierte Darstellung der haushaltsrechtlichen Mechanik zeigt, dass ein böswilliger Akteur die Gerichte lahmlegen kann, ohne ein einziges Gesetz zu ändern – allein durch den Vollzug des Haushaltsplans.
Die Kritik muss sich jedoch an die Adresse derer richten, die diesen Zustand perpetuiert haben. Es ist die Arroganz der Exekutive der etablierten Parteien, die eine finanzielle Emanzipation der Justiz bislang verhindert hat. Wer nun „Resilienz“ fordert, muss bereit sein, die Macht des Justizministeriums zu brechen. Das bedeutet: Eigene Einzelpläne für die Justiz, verwaltet von den Gerichten selbst, kontrolliert vom Rechnungshof, nicht vom Ministerialbürokraten.
Das „Justiz-Projekt“ liefert hierfür die Argumente, scheut aber davor zurück, die politische Verantwortung für den Status quo klar zu benennen. Es stilisiert den Mangel zum potenziellen Werkzeug der Populisten, anstatt ihn als systemisches Versagen der etablierten Staatspraxis zu geißeln. Wahre Wehrhaftigkeit kostet Geld. Und sie kostet die Exekutive Macht. Solange die Politik nicht bereit ist, diesen Preis zu zahlen, bleiben alle Warnungen vor dem „Defunding“ wohlfeile Rhetorik.
Im nächsten Teil wenden wir uns einem Bereich zu, der noch technischer, aber nicht weniger gefährlich ist: der Gerichtsorganisation. Denn wer bestimmt, welches Gericht wo zuständig ist, bestimmt oft auch das Ergebnis.
Sie haben die ersten Teile verpasst? Hier geht es zu Teil 1, zu Teil 2.
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