Der Rechtsstaat im Stresstest: Eine kritische Würdigung des "Justiz-Projekts" (Teil 6)

Das digitale Panoptikum und das Elend des Scholactivism: Ein Schlussplädoyer für die Entpolitisierung der Justiz Zum Abschluss der kritischen Analyse des „Justiz-Projekts“ müssen wir den Blick von den verstaubten Aktenkellern der Personalabteilungen in den Serverraum der dritten Gewalt lenken. Das Kapitel zur IT-Infrastruktur, verantwortet von Lennart Laude und Janos Richter, markiert in gewisser Weise den Höhepunkt der Verwundbarkeitsanalyse. Hier verlassen wir das Feld der juristischen Hermeneutik und betreten das Terrain der harten technischen Fakten – und der totalitären Möglichkeiten. Zugleich bietet dieses letzte Kapitel, zusammen mit der Gesamtbetrachtung des Projekts, den Anlass für eine abschließende Abrechnung mit dem methodischen Ansatz des „Scholactivism“. Denn wer den Rechtsstaat retten will, indem er die Wissenschaft zur Waffe schmiedet, sägt an dem Ast, auf dem die Autorität des Rechts sitzt. I. Der gläserne Richter im Netz der Exekutive Die Analyse der digitalen Infrast...

Der Rechtsstaat im Stresstest: Eine kritische Würdigung des "Justiz-Projekts" (Teil 4)

Die Architektur der Macht: Gerichtsorganisation als Herrschaftsinstrument der Exekutive

Wer die Herrschaft über das Organigramm hat, beherrscht im Zweifel das Recht. Diese Dimension der Justizgewalt, das sogenannte Gerichtsorganisationsrecht, fristet in der akademischen Ausbildung zumeist ein Schattendasein. Es gilt als technisches Verwaltungshandeln, als dröge Materie für Ministerialbeamte. Das „Justiz-Projekt“ der Autoren Zillessen, Brandau und Laude leistet den großen Verdienst, diese scheinbare Harmlosigkeit als Illusion zu entlarven. Im vierten Teil unserer Analyse wenden wir uns jenen Kapiteln zu, die sich mit der „Gerichtsorganisation“ (S. 237 ff.) und den „Landesverfassungsgerichten“ (S. 65 ff.) befassen.

Die Lektüre dieser Abschnitte ist für den zur Lektüre geneigten Verfassungsjuristen ein Wechselbad der Gefühle. Einerseits besticht die kühle Analytik, mit der die Autoren aufzeigen, wie die Exekutive über Rechtsverordnungen und Zuständigkeitskonzentrationen den „gesetzlichen Richter“ (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) faktisch aushebeln kann. Andererseits offenbart sich hier am deutlichsten die politische Schlagseite des Projekts: Organisatorische Maßnahmen, die jahrzehntelang als Gebot der Effizienz gefeiert wurden, werden plötzlich pathologisiert, sobald man sie in den Händen des politischen Gegners wähnt.

I. Die administrative Zurichtung des gesetzlichen Richters

Der Grundsatz des gesetzlichen Richters ist das Hochamt des deutschen Prozessrechts. Er soll verhindern, dass die Exekutive sich für einen bestimmten Fall den ihr genehmen Richter aussucht. Doch das „Justiz-Projekt“ demonstriert eindrucksvoll, dass dieser Schutz nur innerhalb eines Gerichts wirkt. Welche Fälle überhaupt an welches Gericht gelangen, entscheidet hingegen die Politik.

Die Autoren exerzieren dies am Beispiel der Asylgerichtsbarkeit durch. Gemäß § 83 AsylG können Landesregierungen per Rechtsverordnung Zuständigkeiten für bestimmte Herkunftsländer an einzelnen Verwaltungsgerichten konzentrieren. Das Szenario der Studie lautet: Ein autoritär-populistischer Justizminister identifiziert ein Gericht, dessen Spruchkörper für eine besonders restriktive Linie bekannt sind, und weist diesem Gericht per Verordnung alle Verfahren aus Hauptherkunftsländern zu (S. 241 f.). Das Ziel: eine politisch gewollte Senkung der Schutzquoten durch administrative Feinsteuerung.

Diese Analyse ist juristisch absolut stichhaltig. Die Organisationsgewalt ist das Einfallstor für eine politische Steuerung der Rechtsprechung durch die Hintertür. Doch die Empörung, die zwischen den Zeilen des „Justiz-Projekts“ mitschwingt, wirkt künstlich. Denn die Konzentration von Zuständigkeiten ist kein Werkzeug, das für Populisten erfunden wurde. Sie ist gängige Praxis der Justizverwaltung in fast allen Bundesländern, eingeführt und genutzt von CDU/CSU, SPD und Grünen, um Verfahren zu beschleunigen und Spezialisierungsgewinne zu erzielen.

Wenn die Autoren nun warnen, dass eine solche Konzentration die „Rechtsmittelverfahren“ faktisch aushebeln könnte, weil im Asylrecht die Berufung nur eingeschränkt möglich ist (S. 242 f.), dann kritisieren sie geltendes Bundesrecht, das von einer breiten demokratischen Mehrheit beschlossen wurde, um die Asylverfahren zu straffen. Es ist intellektuell unredlich, Instrumente der Effizienzsteigerung, die man jahrelang befürwortet oder zumindest geduldet hat, plötzlich als Vorstufe zum Faschismus zu brandmarken, nur weil die falsche Partei am Regler sitzen könnte. Die Studie verwechselt hier das Werkzeug mit dem Handwerker. Wenn die Zuständigkeitskonzentration ein „Einfallstor“ für Missbrauch ist, dann war sie das schon 2015 und nicht erst in einem fiktiven Szenario 2029.

II. Der Taschenspielertrick mit den Zweigstellen

Noch gravierender sind die Befunde zur Auflösung von Amtsgerichten. Das Szenario beschreibt, wie eine Regierung kleine Amtsgerichte formal auflöst und zu „Zweigstellen“ eines größeren Gerichts herabstuft (S. 244 f.). Der Clou dabei: Durch die Fusion ändert sich der Geschäftsverteilungsplan, und unliebsame Richter können ohne ihre Zustimmung an einen anderen Ort versetzt werden – denn rechtlich bleiben sie ja am „selben“ (nun fusionierten) Gericht. Zudem verlieren sie ihre Mitbestimmungsrechte im Präsidium.

Hier trifft die Studie einen wunden Punkt der deutschen Justizverfassung. Der Schutz vor Versetzung gemäß Artikel 97 Absatz 2 des Grundgesetzes gilt nur für das „Amt“ im statusrechtlichen Sinne und den Gerichtsort. Wenn der Gesetzgeber die Gerichtsstruktur ändert, endet dieser Schutz. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber hier traditionell weite Spielräume eingeräumt (BVerfGE 24, 155).

Das „Justiz-Projekt“ zeigt auf, dass diese Spielräume missbraucht werden können, um kritische Geister in die Provinz zu verbannen oder Präsidien neu zuzuschneiden. Doch auch hier gilt: Die Gebietsreformen der letzten Jahrzehnte, etwa in Mecklenburg-Vorpommern oder Rheinland-Pfalz, wurden stets mit dem Argument der Wirtschaftlichkeit vorangetrieben. Die Warnung der Autoren, dass ein „autoritär-populistisches Gerichtspräsidium“ (S. 245) diese Strukturen nutzen könnte, um Richter zu gängeln, ist plausibel. Sie belegt aber vor allem eines: Die richterliche Unabhängigkeit ist in Deutschland weniger durch die Verfassung geschützt als durch den Anstand der Akteure. Fällt der Anstand weg, bietet das Organisationsrecht kaum Halt. Die Forderung nach einer stärkeren Verrechtlichung der Gerichtsorganisation, etwa durch Parlamentsgesetze statt Verordnungen, ist daher aus konservativer Sicht konsequent. Sie würde die Exekutive fesseln – und zwar jede Exekutive.

III. Die Festung Karlsruhe und ihre kleinen Schwestern

Ein besonderes Augenmerk legt das Projekt auf die Landesverfassungsgerichte (S. 65 ff.). Die Szenarien reichen hier von der „Delegitimierung“ durch verbale Angriffe bis zur „Blockade“ der Richterwahl. Das Trauma der Thüringer Verfassungsrichterwahl, bei der die AfD ihre Sperrminorität nutzte, um den Ausschuss lahmzulegen, dient als Blaupause (S. 159).

Die Autoren sympathisieren erkennbar mit Mechanismen, die eine solche Blockade brechen sollen. Diskutiert werden Ersatzwahlgremien oder ein Vorschlagsrecht des Gerichts selbst (S. 95). Hier begibt sich das Projekt auf verfassungsrechtliches Glatteis. Die Wahl der Verfassungsrichter durch das Parlament mit qualifizierter Mehrheit (Zweidrittelmehrheit) ist kein technisches Detail, sondern die Quelle der demokratischen Legitimation der Verfassungsgerichtsbarkeit. Sie zwingt zum Kompromiss und verhindert, dass eine einfache Mehrheit das Gericht kapert.

Wenn das „Justiz-Projekt“ nun vorschlägt, im Blockadefall das Wahlrecht auf das Gericht selbst oder einen „Präsidialrat“ zu übertragen, dann opfert es das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 2 GG) auf dem Altar der Funktionalität. Ein Gericht, das sich selbst ergänzt, wird zur Kaste. Es entkoppelt sich vom Souverän. Die Gefahr einer „Blockade der Gleichgültigkeit“ (S. 93) oder einer böswilligen Obstruktion ist real. Aber die Antwort darauf darf nicht die Abschaffung der demokratischen Wahl sein. Wenn eine Partei über eine Sperrminorität verfügt, dann ist das ein Wählervotum, das in einer Demokratie nicht einfach durch Verfahrenstricks umgangen werden kann.

Die Autoren beklagen zudem die „geringe öffentliche Sichtbarkeit“ der Landesverfassungsgerichte als Risiko (S. 83). Sie sehen darin eine Einladung zur Delegitimierung. Das ist eine interessante These, die jedoch die Funktion dieser Gerichte verkennt. Verfassungsgerichte sind keine politischen Akteure, die um „Akzeptanz“ werben müssen wie eine Partei. Sie beziehen ihre Autorität aus der Qualität ihrer Argumente, nicht aus PR-Kampagnen. Der Ruf nach mehr Öffentlichkeitsarbeit und „Bürgernähe“ (S. 86) riecht verdächtig nach einer Politisierung der Justiz, die man doch eigentlich verhindern will. Ein Gericht, das Kampagnen für seine eigene Relevanz fährt, macht sich angreifbar.

IV. Das Phantom des „Gera-Syndroms“

Besonders aufschlussreich ist ein Detail im Kapitel zur Gerichtsorganisation. Die Autoren verweisen auf das Verwaltungsgericht Gera und eine Anfrage der Linksfraktion, wonach dort Asylklagen überdurchschnittlich oft erfolglos blieben (S. 242). Dieses Beispiel wird genutzt, um zu illustrieren, wie man durch Zuständigkeitsverlagerung eine bestimmte (restriktive) Spruchpraxis fördern könnte.

Hier zeigt sich der „Scholactivism“ von seiner problematischen Seite. Indem das Projekt eine abweichende, strengere Spruchpraxis implizit als Problem markiert, das von Populisten „genutzt“ werden könnte, pathologisiert es richterliche Unabhängigkeit. Dass verschiedene Kammern oder Gerichte zu unterschiedlichen Bewertungen der Lage in Herkunftsländern kommen, ist Ausdruck der richterlichen Unabhängigkeit, nicht deren Versagen. Wenn das „Justiz-Projekt“ suggeriert, eine solche Praxis sei ein Einfallstor für „rechte“ Strategien, dann unterstellt es, dass nur eine „schutzfreundliche“ Rechtsprechung eine demokratische Rechtsprechung sei. Das ist eine politische, keine rechtswissenschaftliche Wertung.

Die Autoren schreiben: „Ab einer bestimmten Schwelle vergleichbarer Fälle lassen sich unterschiedliche Entscheidungsmuster von außen besser identifizieren“ (S. 242). Das ist korrekt. Aber die Schlussfolgerung, dass die Exekutive daraus ein Instrument zur „Feinsteuerung der Spruchpraxis“ schmieden könnte, setzt voraus, dass man Richter wie Marionetten betrachten kann. Ein deutscher Richter auf Lebenszeit, der sich an Recht und Gesetz hält, lässt sich auch durch eine Zuständigkeitskonzentration nicht „steuern“. Er entscheidet nach seiner Überzeugung. Die Angst der Autoren vor der „Zuständigkeitskonzentration“ offenbart letztlich ein tiefes Misstrauen gegenüber der Standfestigkeit der Richterschaft, wenn diese nicht die gewünschten (progressiven) Ergebnisse liefert.

V. Fazit des vierten Teils

Die Analyse der Gerichtsorganisation und der Landesverfassungsgerichte im „Justiz-Projekt“ ist ein Weckruf, aber vielleicht nicht in dem Sinne, wie die Autoren es intendierten. Sie zeigt, dass der deutsche Rechtsstaat organisatorisch ein Riese auf tönernen Füßen ist. Die Exekutive hat zu viel Macht über die Struktur der Gerichte. Sie kann Gerichte schließen, verlegen, konzentrieren und aushungern.

Die Resilienzstrategie kann jedoch nicht darin bestehen, demokratische Wahlverfahren abzuschaffen, sobald das Wahlergebnis nicht gefällt (wie bei der Richterwahl), oder legitime verwaltungsorganisatorische Instrumente (wie die Zuständigkeitskonzentration) unter Generalverdacht zu stellen. Die Antwort muss eine Rückbesinnung auf die klassische Gewaltenteilung sein: Die Organisation der Gerichte gehört durch förmliches Gesetz geregelt, nicht durch Verordnung des Ministers. Und die Wahl der Verfassungsrichter muss im Parlament bleiben – auch wenn es weh tut. Wer die Demokratie vor ihren Feinden schützen will, darf sie nicht vor dem Volk verstecken.

Im nächsten Teil werden wir uns den Mechanismen der Disziplinierung und der internen Kontrolle widmen. Denn wenn der Zuckerbrot-Ansatz der Beförderung nicht wirkt, greift die Exekutive gerne zur Peitsche des Disziplinarrechts – ein Instrument, das auch in der Hand etablierter Parteien gefährlich sein kann.

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