Der Rechtsstaat im Stresstest: Eine kritische Würdigung des "Justiz-Projekts" (Teil 6)
Das digitale Panoptikum und das Elend des Scholactivism: Ein Schlussplädoyer für die Entpolitisierung der Justiz
Zum Abschluss der kritischen Analyse des „Justiz-Projekts“ müssen wir den Blick von den verstaubten Aktenkellern der Personalabteilungen in den Serverraum der dritten Gewalt lenken. Das Kapitel zur IT-Infrastruktur, verantwortet von Lennart Laude und Janos Richter, markiert in gewisser Weise den Höhepunkt der Verwundbarkeitsanalyse. Hier verlassen wir das Feld der juristischen Hermeneutik und betreten das Terrain der harten technischen Fakten – und der totalitären Möglichkeiten. Zugleich bietet dieses letzte Kapitel, zusammen mit der Gesamtbetrachtung des Projekts, den Anlass für eine abschließende Abrechnung mit dem methodischen Ansatz des „Scholactivism“. Denn wer den Rechtsstaat retten will, indem er die Wissenschaft zur Waffe schmiedet, sägt an dem Ast, auf dem die Autorität des Rechts sitzt.
I. Der gläserne Richter im Netz der Exekutive
Die Analyse der digitalen Infrastruktur der Justiz (S. 273 ff.) ist vielleicht der verdienstvollste Teil der gesamten Studie, weil sie ein Thema beleuchtet, das in Sonntagsreden über den Rechtsstaat meist als bloße Modernisierungsfrage abgetan wird. Die Autoren zeigen auf, dass die Abhängigkeit der Justiz von den Rechenzentren der Exekutive eine existenzielle Bedrohung für die richterliche Unabhängigkeit darstellt.
Das Szenario ist technokratisch, aber in seiner Konsequenz brutal: Da die Justiz in den meisten Bundesländern über keine eigene IT-Souveränität verfügt, liegen ihre Daten – Urteilsentwürfe, interne Kommunikation, Beratungsnotizen – auf den Servern von Landesoberbehörden oder Anstalten öffentlichen Rechts wie Dataport, die letztlich der Fachaufsicht der Ministerien unterstehen. Ein autoritär-populistisches Justizministerium könnte, so die Warnung, über Administratorenrechte theoretisch Einblick in das heiligste aller juristischen Güter nehmen: das Beratungsgeheimnis.
Die Autoren zitieren hierzu einen Amtsrichter mit dem drastischen Bild, die IT-Verwaltung sei „von außen eine relativ undurchschaubare Krake“ (S. 279). Noch beunruhigender ist der Hinweis auf die Möglichkeit eines „Kill Switch“ (S. 281): Die Exekutive könnte der Justiz schlicht den digitalen Stecker ziehen. In einer Zeit, in der die elektronische Akte verpflichtend ist, käme dies einer Stilllegung der Rechtsprechung gleich. Die Justiz wäre blind, taub und stumm.
Aus liberal-konservativer Sicht ist dieser Befund ein Skandal. Doch der Skandal liegt nicht in der hypothetischen Möglichkeit, dass ein AfD-Minister diese Macht missbrauchen könnte. Der Skandal liegt darin, dass die etablierten Parteien der Justiz diese digitale Leine überhaupt angelegt haben. Es waren CDU, SPD, FDP und Grüne, die im Namen von Synergieeffekten und Kosteneffizienz die IT-Hoheit der Gerichte an exekutive Dienstleister ausgelagert haben. Die Warnung des Bundesverfassungsgerichts, dass schon das „Gefühl des unkontrollierbaren Beobachtetwerdens“ (BVerfG, Beschluss vom 17.01.2013 – 2 BvR 2576/11, Rn. 8; zitiert auf S. 285) die Unabhängigkeit verletzt, wurde in den Justizministerien jahrzehntelang ignoriert.
Wenn das „Justiz-Projekt“ nun fordert, eine „unabhängige IT-Infrastruktur der Justiz zu schaffen“ (S. 285), etwa durch ein eigenes Justizrechenzentrum auf Staatsvertragsbasis, ist dem uneingeschränkt zuzustimmen. Es ist eine Frage der Gewaltenteilung, dass die Judikative ihre digitale Souveränität nicht an der Pforte des Ministeriums abgibt. Dass es erst der Angst vor dem politischen Gegner bedarf, um diese verfassungsrechtliche Binsenweisheit zu erkennen, wirft ein bezeichnendes Licht auf den Zustand unseres Rechtsstaatsbewusstseins. Wir haben ein digitales Panoptikum gebaut und hoffen nun naiv, dass der Wärter immer ein wohlwollender Demokrat sein möge. Das ist keine Resilienz, das ist Fahrlässigkeit.
II. Wissenschaft als „ziviler Verfassungsschutz“?
Am Ende der Lektüre von über dreihundert Seiten „Szenarioanalyse“ bleibt ein schales Gefühl zurück. Es speist sich nicht aus der Qualität der Recherche – diese ist, wie mehrfach betont, exzellent und detailreich. Es speist sich aus dem Selbstverständnis, mit dem hier Wissenschaft betrieben wird. Die Herausgeber und Autoren bekennen sich offen zum „Scholactivism“ (S. 58), einer Vermengung von Scholarship (Forschung) und Activism (Aktivismus). Sie wollen nicht nur beschreiben, sie wollen „wirken“. Sie verstehen ihr Projekt als Teil eines „zivilen Verfassungsschutzes“ (S. 46).
Dieser Ansatz ist gefährlich. Die Autorität der Rechtswissenschaft – und insbesondere der Staatsrechtslehre – beruht darauf, dass sie Distanz zum politischen Tageskampf wahrt. Sie analysiert die Spielregeln, sie spielt nicht mit. Wenn Verfassungsrechtler beginnen, sich als Hilfstruppen im Kampf gegen eine bestimmte politische Strömung zu verstehen, geben sie ihre Position als neutrale Schiedsrichter auf. Sie werden zu Parteigängern.
Das „Justiz-Projekt“ tappt in genau diese Falle. Indem es seine Szenarien fast ausschließlich auf die Abwehr „autoritär-populistischer“ (sprich: rechter) Akteure zuschneidet, macht es sich blind für die Übergriffe der etablierten Macht. Wir haben in den vorangegangenen Teilen dieser Analyse gesehen, wie die Instrumentalisierung des Disziplinarrechts, die politische Ämterpatronage und die Aushöhlung des Bestenausleseprinzip längst zur DNA der bundesdeutschen Parteiendemokratie gehören. Wer diese Missstände nur dann skandalisiert, wenn sie dem politischen Gegner nutzen könnten, betreibt keine Resilienzforschung, sondern Herrschaftssicherung.
Ein „ziviler Verfassungsschutz“, der aus der Wissenschaft heraus operiert, droht das Klima der freien Debatte zu vergiften. Er fördert eine Kultur des Verdachts, in der abweichende juristische Meinungen – etwa zur Europarechtsfreundlichkeit oder zum Migrationsrecht – schnell als Indizien für „mangelnde Verfassungstreue“ gedeutet werden. Das Projekt warnt vor der „Delegitimierung“ der Justiz durch Populisten (S. 83). Doch delegitimiert sich eine Rechtswissenschaft nicht selbst, wenn sie ihre methodischen Standards in den Dienst einer „guten Sache“ stellt und dabei die Augen vor den strukturellen Defiziten verschließt, die von den „Guten“ verantwortet werden?
III. Die Illusion der absoluten Sicherheit
Das „Justiz-Projekt“ ist geprägt von einem tiefen Pessimismus gegenüber dem demokratischen Prozess und einem fast rührenden Optimismus gegenüber institutionellen Sicherungen. Der Grundtenor lautet: Wenn wir nur genug Regelungen in die Verfassung schreiben, wenn wir nur genug Quoren erhöhen und Gremien schaffen, dann können wir den Rechtsstaat „wetterfest“ machen gegen den Wählerwillen.
Das ist eine Illusion. Eine Verfassung, die von der Mehrheit des Volkes nicht mehr getragen wird, lässt sich nicht durch juristische Fallstricke retten. Wenn eine autoritäre Partei tatsächlich 51 oder gar 66 Prozent der Stimmen erhält, dann wird sie Wege finden, ihren Willen durchzusetzen – und sei es durch die Änderung der Verfassung selbst. Der Versuch, den Status quo durch Ewigkeitsgarantien für einfache Organisationsfragen zu zementieren, ist nicht Ausdruck von Wehrhaftigkeit, sondern von Erstarrung.
Wahre Resilienz entsteht nicht durch die Abschottung der Institutionen, sondern durch ihre funktionale Integrität. Ein Gericht, das effizient arbeitet, dessen Urteile verständlich und dessen Richter fachlich über jeden Zweifel erhaben sind, braucht keine Angst vor Populisten zu haben. Es erwirbt seine Autorität durch Leistung, nicht durch verfassungsrechtliche Bannmeilen. Das „Justiz-Projekt“ empfiehlt zu oft die Flucht in die Verrechtlichung, wo eine Rückbesinnung auf das Ethos erforderlich wäre.
IV. Das Vermächtnis des Projekts: Ein Auftrag an die Konservativen
Trotz aller Kritik: Das „Justiz-Projekt“ ist ein wichtiges Werk. Es ist ein Weckruf für alle, die den Rechtsstaat nicht nur als Phrase, sondern als institutionelle Realität begreifen. Für den liberal-konservativen Juristen liegt der Wert der Studie gerade in dem, was sie ungewollt offenlegt: Das deutsche Justizsystem ist ein Schönwetter-System, gebaut auf dem Vertrauen, dass Ministerialbeamte und Gerichtspräsidenten Gentlemen sind, die ihre Macht nicht missbrauchen.
Dieses Vertrauen ist aufgebraucht – und zwar nicht erst seit dem Aufstieg der AfD. Die Politisierung der Justiz, die Erosion des Leistungsprinzips und die ökonomische Gängelung der Gerichte sind Realitäten, die von der Mitte der Gesellschaft geduldet wurden. Das „Justiz-Projekt“ liefert nun, quasi als Beifang seiner Anti-AfD-Strategie, die Blaupause für eine längst überfällige Reform der Justizverwaltung.
Die Forderungen, die sich aus einer nüchternen Lektüre der Ergebnisse ableiten lassen, müssen lauten:
1. Entflechtung: Die Justizverwaltung muss aus der Hierarchie der Ministerien herausgelöst werden. Wir brauchen eine weitgehende Selbstverwaltung der Justiz, die aber – und das ist entscheidend – demokratisch rückgebunden bleibt und nicht zu einer ständischen Selbstbedienung verkommt.
2. Objektivierung: Der Zugang zum Richteramt und der Aufstieg in der Justiz müssen wieder streng an objektive Leistungskriterien (Noten, erledigte Fälle, Qualität der Urteile u.a.) gekoppelt werden. „Soziale Kompetenz“ und „Haltung“ dürfen keine Einfallstore für Gesinnungsprüfungen sein.
3. Souveränität: Die Justiz braucht eine eigene Budgethoheit und eine eigene IT-Infrastruktur. Die Abhängigkeit vom Wohlwollen der Finanzminister und der Kompetenz staatlicher Rechenzentren muss enden.
Wenn wir diese Lehren ziehen, hat das „Justiz-Projekt“ seinen Zweck erfüllt. Es hat uns gezeigt, wo die Mauern unseres Rechtsstaats bröckeln. Dass die Autoren dabei vor allem nach rechts schauen, mag ihrer politischen Verortung geschuldet sein. Der kluge Beobachter schaut jedoch auf das Bauwerk selbst. Und er erkennt: Die Risse gehen durch das Fundament. Wer den Rechtsstaat vor seinen Feinden schützen will, muss ihn zunächst vor seinen falschen Freunden schützen – und vor seiner eigenen Bequemlichkeit. Antizipation bedeutet nicht, Panik zu verbreiten. Antizipation bedeutet, das Haus so zu bauen, dass es stehen bleibt, egal, wer gerade regiert. Das Grundgesetz vertraut auf die Kraft des Rechts, nicht auf die Macht der Gesinnung. Kehren wir zu diesem Vertrauen zurück.