Der Rechtsstaat im Stresstest: Eine kritische Würdigung des "Justiz-Projekts" (Teil 6)

Das digitale Panoptikum und das Elend des Scholactivism: Ein Schlussplädoyer für die Entpolitisierung der Justiz Zum Abschluss der kritischen Analyse des „Justiz-Projekts“ müssen wir den Blick von den verstaubten Aktenkellern der Personalabteilungen in den Serverraum der dritten Gewalt lenken. Das Kapitel zur IT-Infrastruktur, verantwortet von Lennart Laude und Janos Richter, markiert in gewisser Weise den Höhepunkt der Verwundbarkeitsanalyse. Hier verlassen wir das Feld der juristischen Hermeneutik und betreten das Terrain der harten technischen Fakten – und der totalitären Möglichkeiten. Zugleich bietet dieses letzte Kapitel, zusammen mit der Gesamtbetrachtung des Projekts, den Anlass für eine abschließende Abrechnung mit dem methodischen Ansatz des „Scholactivism“. Denn wer den Rechtsstaat retten will, indem er die Wissenschaft zur Waffe schmiedet, sägt an dem Ast, auf dem die Autorität des Rechts sitzt. I. Der gläserne Richter im Netz der Exekutive Die Analyse der digitalen Infrast...

Der Rechtsstaat im Stresstest: Eine kritische Würdigung des "Justiz-Projekts" (Teil 1)

Von der analytischen Beobachtung zum „zivilen Verfassungsschutz“: Methodenkritik einer politisierten Staatsrechtslehre

Teile der deutschen Verfassungsrechtswissenschaft befinden sich in einer Phase großer Unruhe. Das jahrzehntelang kultivierte Selbstverständnis, wonach das Grundgesetz eine in sich ruhende, durch das Bundesverfassungsgericht autoritativ interpretierte Ordnung des Ausgleichs darstellt, weicht zunehmend einem Gefühl der Bedrohung. Die Wahlerfolge der Alternative für Deutschland (AfD) in den ostdeutschen Bundesländern und ihre Etablierung im bundesweiten Parteienspektrum haben eine Hektik im verfassungsrechtlichen Diskurs ausgelöst, die bisweilen die Grenze zur Panik touchiert. In diesem diskursiven Klima erscheint nun das sogenannte „Justiz-Projekt“ des Verfassungsblogs, herausgegeben von Friedrich Zillessen, Anna-Mira Brandau und Lennart Laude. Unter dem Titel „Verwundbarkeit und Resilienz der dritten Gewalt“ unternehmen die Autoren auf über 300 Seiten den Versuch, die Widerstandsfähigkeit der deutschen Justizorganisation gegen eine feindliche Übernahme durch „autoritär-populistische Akteure“ zu prüfen.

Das Werk versteht sich nicht als klassische juristische Monographie, sondern als interdisziplinäre Intervention. Es ist Dokument einer neuen Generation von Juristen, die den akademischen Elfenbeinturm bewusst verlassen will, um im politischen Vorfeld Wirkung zu entfalten. Doch genau hier beginnt das Problem. Wer die vorliegende Untersuchung mit der notwendigen Distanz liest, erkennt darin nicht nur eine wertvolle Analyse struktureller Defizite der deutschen Justizverwaltung, sondern zugleich ein Zeugnis für die schleichende Umwidmung der Rechtswissenschaft in ein Instrument des politischen Kampfes. Die nachfolgende Reihe an Essays wird das Projekt in sechs Teilen einer Tiefenanalyse unterziehen. Dabei soll aufgezeigt werden, dass die identifizierten Schwachstellen – von der Richterwahl über die Haushaltssteuerung bis zur IT-Infrastruktur – zwar real sind, die einseitige Fokussierung auf "populistische Akteure" jedoch den Blick dafür verstellt, dass die Erosion rechtsstaatlicher Standards längst aus der Mitte des politischen Spektrums heraus erfolgt.

I. Der Abschied vom Ideal der wertungsfreien Wissenschaft

Bereits in der Einleitung und der methodischen Grundlegung des Werkes wird deutlich, dass die Autoren den Boden der klassischen, distanzierten Wissenschaft verlassen. Sie bekennen sich offen zum Konzept des „Scholactivism“ – einer Wortschöpfung, die Scholarship (Wissenschaft) und Activism (Aktivismus) verschmilzt. Das Projekt versteht sich explizit als Teil eines „zivilen Verfassungsschutzes“ (vgl. Müller-Elmau/Zillessen, S. 46, Fn. 145). Diese Selbstbeschreibung ist entlarvend. Der Verfassungsschutz ist im deutschen Verfassungsgefüge ein Nachrichtendienst, mithin ein Instrument der Exekutive zur Gefahrenabwehr. Wenn sich Wissenschaftler nun als dessen ziviles Pendant gerieren, geben sie ihren Anspruch auf überparteiliche Analyse auf. Sie werden zu Akteuren im verfassungspolitischen Grabenkampf.

Die Herausgeber schreiben: „Antrieb war dabei nicht nur die Freude am Erkenntnisgewinn, sondern auch die Überzeugung, dass es in Zeiten autoritärer Bedrohungen unverzichtbar ist, Wissen zu generieren und einer breiten Öffentlichkeit frei zugänglich zu machen“ (S. 17). Das klingt zunächst honorig. Doch die methodische Umsetzung in Form der „qualitativen Szenarioanalyse“ (S. 33 ff.) offenbart, dass hier das Ergebnis der Untersuchung in weiten Teilen bereits in der Prämisse enthalten ist. Die Szenarien sind Narrative, die eine teleologische Zuspitzung erfahren: Sie dienen dazu, den „Worst Case“ einer Machtübernahme durch die AfD – die im Text meist nur als „autoritär-populistische Partei“ chiffriert wird, obwohl die Bezüge zu Thüringen (S. 23) eindeutig sind – so plastisch wie möglich auszumalen.

Dabei stützen sich die Autoren auf die sozialwissenschaftliche Definition des Populismus als „dünne Ideologie“, die einen Gegensatz zwischen dem „anständigen Volk“ und der „korrupten Elite“ konstruiere (S. 41). Diese Definition mag in der Politikwissenschaft ihren heuristischen Wert haben. Wenn sie jedoch zur Grundlage einer verfassungsrechtlichen Gefahrenanalyse gemacht wird, führt sie zu einer gefährlichen Asymmetrie. Sie blendet aus, dass auch und gerade die etablierten Parteien – die im Duktus der Populisten zur „Elite“ zählen – über ein erhebliches Arsenal an Methoden verfügen, um die Justiz zu instrumentalisieren und den politischen Gegner mit juristischen Mitteln zu bekämpfen. Das „Justiz-Projekt“ operiert mit einem Freund-Feind-Schema, das die Bedrohung des Rechtsstaats exklusiv bei den Herausforderern des Systems verortet und die etablierten Kräfte implizit als die natürlichen Hüter der Verfassung idealisiert. Diese Annahme ist, wie die jüngere Verfassungsgeschichte zeigt, naiv.

II. Die Methode der „qualitativen Szenarioanalyse“: Plausibilität statt Wahrheit?

Methodisch betritt das Projekt Neuland. Anstatt sich auf die klassische Exegese des geltenden Rechts zu beschränken, werden fiktive Szenarien entwickelt, die auf Interviews mit rund 70 Praktikern aus der Justiz basieren. Die Autoren betonen, dass es nicht um Wahrscheinlichkeiten gehe, sondern um Plausibilität: „Maßgeblich ist Plausibilität, nicht Wahrscheinlichkeit“ (S. 29). Diese Methode erlaubt es, juristische Fantasie mit empirischem Erfahrungswissen zu verknüpfen. Sie birgt jedoch die Gefahr der Zirkularität: Wenn man Richter fragt, wie sie sich eine Machtübernahme durch Extremisten vorstellen, erhält man Antworten, die von den Ängsten und dem politischen Vorverständnis dieser Richter geprägt sind. Das Szenario wird so zum Spiegel der Befürchtungen des links-liberalen Justizmilieus, nicht zwingend zum Abbild der realen Gefährdungslage.

Die Autoren räumen das Problem der „selbstzerstörenden Prophezeiung“ (S. 59) und des „Playbook-Problems“ (S. 60) ein – also der Gefahr, dass die aufgezeigten Schwachstellen erst durch ihre Publikation zu einer Anleitung für Verfassungsfeinde werden. Sie wischen diese Bedenken jedoch mit dem Argument beiseite, dass die Aufklärung über Verwundbarkeiten wichtiger sei als das Schweigen. Das mag zutreffen. Doch viel schwerwiegender ist ein anderer methodischer Mangel: Die fehlende Reflexion darüber, dass viele der beschriebenen Szenarien – etwa die politische Besetzung von Richterstellen (etwa den Proporz und die politische Nähe der Richter am Bundesverfassungsgericht) oder die Einflussnahme über den Haushalt – keine hypothetischen Dystopien sind, sondern gelebte Realität des Parteienstaates.

Das Projekt beschreibt beispielsweise detailliert, wie eine autoritäre Regierung durch „gezielte Schmähkritik“ (S. 83) die Legitimität von Gerichten untergraben könnte. Als Beleg wird unter anderem auf Donald Trump verwiesen. Dass aber auch deutsche Spitzenpolitiker der „demokratischen Mitte“ Gerichtsurteile, die ihnen politisch nicht passen, öffentlich diskreditieren oder ignorieren, findet kaum Erwähnung. Man denke an die Reaktion der Bundesregierung auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin zur Rechtswidrigkeit von Zurückweisungen an der Grenze, das als bloße „Einzelfallentscheidung“ abgetan wurde, um die politische Linie nicht korrigieren zu müssen. Oder an die ständige Kritik an Verwaltungsgerichten, wenn diese Abschiebungen stoppen. Wenn das „Justiz-Projekt“ solche Vorgänge ausblendet und Delegitimierung nur als Strategie der „Anderen“ markiert, betreibt es keine objektive Wissenschaft, sondern bedient ein politisches Narrativ.

III. Die Blindstelle: Der Missbrauch des Rechts durch die „Guten“

Die vielleicht größte Schwäche des Ansatzes liegt in seiner Fixierung auf das „Was wäre, wenn“. Dabei übersieht das Projekt das „Was ist schon“. Die Instrumentalisierung des Rechts zur Ausschaltung politischer Gegner ist in Deutschland längst Realität – allerdings unter umgekehrten Vorzeichen. Ein prominentes Beispiel, das im Rahmen einer solchen Untersuchung zwingend hätte diskutiert werden müssen, ist der Fall Joachim Paul in Rheinland-Pfalz im Jahr 2025. Unter Berufung auf Zweifel an seiner Verfassungstreue wurde dieser von dem Wahlgremium nicht zur OB-Bürgermeisterwahl in Ludwigshafen zugelassen. Dies geschah auf Grundlage behördlicher Einschätzungen, mithin durch die Exekutive.

Hier manifestiert sich ein Szenario, das dem „autoritären Legalismus“, vor dem das Projekt warnt, frappierend ähnelt: Die Exekutive nutzt unbestimmte Rechtsbegriffe („Verfassungstreue“), um den demokratischen Wettbewerb zu verengen und missliebige Kandidaten präventiv auszuschließen. Wenn das „Justiz-Projekt“ warnt, dass autoritäre Populisten „die Justiz als Bühne“ missbrauchen (S. 24), muss es sich die Frage gefallen lassen, ob nicht die präventive Nutzung des Disziplinar- und Beamtenrechts durch die etablierten Parteien zur „Demokratiesicherung“ genau jene Einfallstore öffnet, die man schließen will. Wer heute applaudiert, wenn Verwaltungsgerichte auf Basis von Verfassungsschutzberichten – also behördlichen Meinungsäußerungen – Grundrechte ohne vertiefte Einzelfallprüfung einschränken, liefert die Blaupause für den Missbrauch von morgen.

Die Autoren definieren autoritäre Populisten als Akteure, die behaupten, „dem vermeintlichen ‚Volkswillen‘ zur Geltung verhelfen zu wollen“ (S. 41) und dabei Institutionen aushöhlen. Doch ist es nicht auch eine Aushöhlung von Institutionen, wenn der Verfassungsschutz, eine der Exekutive untergeordnete Behörde, durch die Einstufung von Oppositionsparteien als „Verdachtsfall“ massiv in den politischen Wettbewerb eingreift und die Chancengleichheit der Parteien (Art. 21 GG) beeinträchtigt? Das „Justiz-Projekt“ problematisiert zwar, dass ein autoritärer Justizminister die Regelanfrage beim Verfassungsschutz instrumentalisieren könnte (S. 153). Es verkennt aber, dass das Instrument der Regelanfrage selbst das Problem ist, nicht erst sein Missbrauch durch die „Falschen“. Die Schaffung von Gesinnungsprüfungen im öffentlichen Dienst, wie sie derzeit in vielen Bundesländern forciert wird, schwächt die Resilienz der Justiz, weil sie das Richteramt von der fachlichen Qualifikation (Art. 33 Abs. 2 GG) entkoppelt und an die politische Konformität bindet.

IV. Zwischenfazit zum ersten Teil

Der erste Teil der Analyse zeigt: Das „Justiz-Projekt“ leistet eine wichtige Fleißarbeit bei der Identifikation technischer und organisatorischer Schwachstellen. Seine normative Grundierung ist jedoch einseitig. Es operiert mit einem idealisierten Bild des status quo, in dem die etablierten Parteien und die Ministerialbürokratie als wohlwollende Gralshüter des Rechtsstaats erscheinen, während die Gefahr ausschließlich von außen droht. Diese Perspektive ist gefährlich. Denn die wirksamste Resilienz gegen Autoritarismus ist nicht die Schaffung neuer Abwehrinstrumente, die sich gegen eine bestimmte politische Richtung wenden, sondern die strikte Formalisierung und Neutralisierung des Rechts. Wer den Rechtsstaat „wetterfest“ machen will, darf ihn nicht zur Festung gegen den Wählerwillen ausbauen, sondern muss sicherstellen, dass die Justiz auch dann noch funktioniert, wenn die politischen Mehrheiten wechseln. Das Projekt tendiert jedoch dazu, „Resilienz“ mit der Perpetuierung der bestehenden Machtverhältnisse zu verwechseln.

Im nächsten Teil dieser Analyse werden wir uns konkret den Szenarien zur Richterernennung und zur Personalpolitik widmen. Dort zeigt sich am deutlichsten, wie das deutsche System der „Ochsentour“ und der politischen Beamtenpatronage jene Einfallstore erst geschaffen hat, vor denen nun so lautstark gewarnt wird.

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