Der Rechtsstaat im Stresstest: Eine kritische Würdigung des "Justiz-Projekts" (Teil 6)

Das digitale Panoptikum und das Elend des Scholactivism: Ein Schlussplädoyer für die Entpolitisierung der Justiz Zum Abschluss der kritischen Analyse des „Justiz-Projekts“ müssen wir den Blick von den verstaubten Aktenkellern der Personalabteilungen in den Serverraum der dritten Gewalt lenken. Das Kapitel zur IT-Infrastruktur, verantwortet von Lennart Laude und Janos Richter, markiert in gewisser Weise den Höhepunkt der Verwundbarkeitsanalyse. Hier verlassen wir das Feld der juristischen Hermeneutik und betreten das Terrain der harten technischen Fakten – und der totalitären Möglichkeiten. Zugleich bietet dieses letzte Kapitel, zusammen mit der Gesamtbetrachtung des Projekts, den Anlass für eine abschließende Abrechnung mit dem methodischen Ansatz des „Scholactivism“. Denn wer den Rechtsstaat retten will, indem er die Wissenschaft zur Waffe schmiedet, sägt an dem Ast, auf dem die Autorität des Rechts sitzt. I. Der gläserne Richter im Netz der Exekutive Die Analyse der digitalen Infrast...

Der Rechtsstaat im Stresstest: Eine kritische Würdigung des "Justiz-Projekts" (Teil 5)

Die Peitsche des Dienstherrn: Disziplinarrecht als Exerzierfeld politischer Säuberung

Wenn das Zuckerbrot der Beförderung nicht wirkt, greift der Leviathan zur Peitsche. Das fünfte Kapitel unserer kritischen Exegese des „Justiz-Projekts“ wendet sich dem dunkelsten und zugleich sensibelsten Bereich der gerichtlichen Binnenorganisation zu: der Disziplinargewalt. Die Autorin Annika Perlebach liefert hierzu, unterstützt von Etienne Hanelt und Jonathan Schramm, eine Analyse, die in ihrer Nüchternheit erschüttert. Sie sezieren das deutsche Richterdienstrecht und fördern ein Arsenal an Instrumenten zutage, mit dem eine illiberale Exekutive die richterliche Unabhängigkeit nicht frontal brechen, aber doch empfindlich biegen könnte.

Die Lektüre der Seiten 201 bis 220 dieses Kompendiums ist für jeden liberalen Rechtsstaatsfreund eine Mahnung zur Vorsicht. Doch sie ist auch ein Dokument einer bemerkenswerten politischen Einäugigkeit. Denn während die Autoren akribisch aufzeigen, wie eine fiktive „autoritär-populistische“ Regierung das Disziplinarrecht missbrauchen könnte, um kritische Richter mundtot zu machen, schweigen sie weitgehend zu der realen Tendenz der gegenwärtigen Politik, das Dienstrecht zu einem Instrument der Gesinnungskontrolle „gegen Rechts“ umzuschmieden. Wer den Teufel an die Wand malt, sollte nicht gleichzeitig dabei helfen, ihm den Pinsel zu reichen.

I. Der „Chilling Effect“ und die Asymmetrie der Angst

Das „Justiz-Projekt“ identifiziert zutreffend den sogenannten „Chilling Effect“ als Hauptgefahr repressiver Personalpolitik. Ein Obergerichtspräsident wird mit dem entlarvenden Satz zitiert: „Klar kann man nicht in Abrede stellen, dass das natürlich funktioniert, dass also die Helden-Quote unter Richterinnen und Richtern genauso groß ist wie in der Allgemeinbevölkerung. […] Wenn der Dienstherr kommt und sagt, ich überziehe dich mit einem Disziplinarverfahren […], das wird die meisten Kollegen einschüchtern“ (S. 212).

Dieser Befund ist so trivial wie wahr. Die Androhung eines Disziplinarverfahrens, selbst wenn es am Ende im Sande verläuft, ist eine soziale und psychische Belastung, die den „besonnenen Richter“ (so das Bundesverfassungsgericht) zur Konformität drängt. Die Autoren warnen davor, dass eine populistische Regierung diesen Mechanismus nutzen könnte, um Richter zu sanktionieren, die sich kritisch zu Regierungsmaßnahmen äußern oder politisch missliebige Urteile fällen. Sie verweisen auf das Mäßigungsgebot des § 39 DRiG, einen unbestimmten Rechtsbegriff, der wie Knete in den Händen des Dienstherrn liegt.

Was die Studie jedoch ausblendet, ist die Tatsache, dass dieser „Chilling Effect“ im deutschen Justizapparat bereits heute wirkt – nur in die andere Richtung. In einer Zeit, in der der „Kampf gegen Rechts“ zur Staatsraison erhoben wird, überlegt sich jeder konservative Richter zweimal, ob er öffentlich Kritik an der Migrationspolitik übt oder die Corona-Maßnahmen der Regierung zu scharf rügt. Die von den Autoren problematisierte Weite des Begriffs „Dienstvergehen“ (S. 212) ist gerade jenes Einfallstor, das derzeit von Innen- und Justizministern der etablierten Parteien massiv erweitert wird, um „Verfassungsfeinde“ schneller aus dem Dienst entfernen zu können.

Die in vielen Bundesländern diskutierte oder bereits eingeführte „Regelanfrage“ beim Verfassungsschutz und die Beweislastumkehr im Disziplinarrecht sind Instrumente, die offiziell dem Schutz der Demokratie dienen sollen. Das „Justiz-Projekt“ warnt nun davor, dass diese Instrumente in die falschen Hände geraten könnten (S. 213, 219). Das ist korrekt, aber die Schlussfolgerung müsste radikaler sein: Nicht der falsche Nutzer ist das Problem, sondern das Instrument selbst. Ein Disziplinarrecht, das es der Exekutive ermöglicht, Richter aufgrund bloßer Verdachtsmomente des Inlandsgeheimdienstes unter Druck zu setzen, ist mit der Gewaltenteilung unvereinbar – egal, ob der Minister von der SPD, der CDU oder der AfD gestellt wird. Wer heute fordert, die Hürden für die Entfernung aus dem Dienst zu senken, um „Rechte“ loszuwerden, schleift genau jene Schutzwälle, hinter denen sich morgen links-liberale Richter vor einem autoritären Zugriff verschanzen müssten.

II. Die „Einheit des Dienstvergehens“ als perfide Fessel

Besonders instruktiv ist die Analyse der verfahrensrechtlichen Fallstricke. Die Autoren weisen auf den Grundsatz der „Einheit des Dienstvergehens“ hin. Dieser besagt, dass alle Verfehlungen eines Beamten in einem einheitlichen Verfahren zu würdigen sind. Das klingt nach Rechtsstaatlichkeit, kann aber zur Waffe werden. Ein Obergerichtspräsident schildert im Interview, wie man ein Verfahren „ad infinitum“ ziehen kann, indem man kurz vor Abschluss einfach einen neuen, kleinen Vorwurf nachschiebt, der dann wieder ausermittelt werden muss (S. 214). Solange das Verfahren läuft, ist eine Beförderung faktisch ausgeschlossen.

Hier zeigt sich die ganze Brutalität des administrativen Mikromanagements. Ein Justizminister, der einen Richter kaltstellen will, muss ihn nicht entlassen. Er muss ihn nur dauerhaft in einem Schwebezustand der Ermittlung halten. Das „Justiz-Projekt“ empfiehlt als Gegenmittel eine Stärkung der gerichtlichen Kontrolle, etwa durch Fristsetzungen (S. 214). Das ist richtig, greift aber zu kurz. Das Kernproblem ist die Konstruktion der Dienstaufsicht selbst. Solange Richter Beamte sind, die der Aufsicht der Exekutive unterstehen (§ 26 DRiG), bleibt die Unabhängigkeit prekär. Eine wirkliche Resilienz entstünde erst, wenn die Disziplinargewalt vollständig aus der Hand des Ministeriums in die Hand einer unabhängigen Richterkammer gelegt würde – und zwar von Anfang an, nicht erst in der Berufungsinstanz.

III. Der ungeschützte Maschinenraum: Rechtspfleger und Geschäftsstellen

Einen verdienstvollen Blick wirft die Studie auch in den „Maschinenraum“ der Justiz: auf das nicht-richterliche Personal. Sophie Sendrowski analysiert im Kapitel „Nicht-richterliches Personal“ (S. 221 ff.), wie über die Geschäftsleiter und Rechtspfleger Einfluss auf die Rechtsprechung genommen werden kann.

Rechtspfleger sind zwar sachlich unabhängig (§ 9 RPflG), genießen aber keinen dem Artikel 97 GG vergleichbaren Schutz vor Versetzung oder Amtsenthebung. Die Autoren skizzieren ein Szenario, in dem eine politisierte Geschäftsleitung gezielt Verfahrensabläufe sabotiert, indem sie kritischen Richtern ineffizientes Personal zuweist oder Akten „verlegt“ (S. 239). Im fiktiven Fall der „Familie Özmen“ wird eine Grundbucheintragung durch einen ideologisch motivierten Rechtspfleger verschleppt, um einen Grundstückskauf zu verhindern (S. 231).

Diese Szenarien sind keine Science-Fiction. Sie demonstrieren die Verwundbarkeit einer Justiz, die sich in der Verwaltung auf hierarchische Unterordnung verlässt. Wenn das „Justiz-Projekt“ hier fordert, die Auswahl der Geschäftsleiter stärker an die Gerichtspräsidenten zu binden und dem Zugriff des Ministeriums zu entziehen (S. 235), ist das ein Schritt in die richtige Richtung. Doch auch hier schwingt eine gewisse Naivität mit. Die Autoren scheinen davon auszugehen, dass Gerichtspräsidenten per se Bollwerke der Demokratie sind. Dass aber auch Gerichtspräsidenten politische Beamte sein können, die ihre Karriere der Anpassung verdanken, wird im Kapitel zur Beförderung (Teil 2 unserer Analyse des Justiz-Projekts) näher thematisiert.

IV. Die Gefahr der selektiven Moral

Die größte Schwäche des Kapitels zum Disziplinarrecht liegt in seiner selektiven Moral. Die Autoren problematisieren zu Recht den „selektiven Schutz vor Disziplinarmaßnahmen“ (S. 216) – also das Szenario, dass ein autoritärer Minister seine eigenen Leute vor Verfolgung schützt. Sie verweisen auf das Beispiel Polen, wo regierungstreue Richter trotz Verfehlungen unbehelligt blieben.

Was fehlt, ist die Reflexion darüber, dass diese Selektivität ein Strukturproblem jeder politischen Verwaltung ist. Auch im gegenwärtigen System der Bundesrepublik wird mit zweierlei Maß gemessen. Ein Richter, der sich im links-grünen Spektrum radikal äußert, hat selten disziplinarische Konsequenzen zu fürchten, solange er nicht zur Gewalt aufruft. Ein Richter, der sich im rechten Spektrum bewegt, gerät sehr schnell in den Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit. Der Fall des ehemaligen AfD-Bundestagsabgeordneten und Richters Jens Maier, der in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurde, mag juristisch vertretbar gewesen sein. Er markiert aber eine Verschiebung der Maßstäbe: Nicht mehr konkrete Fehlleistungen im Amt, sondern die prognostizierte politische Unzuverlässigkeit wird zum Sanktionsgrund.

Das „Justiz-Projekt“ warnt davor, dass Populisten diese Instrumente nutzen könnten. Es übersieht dabei, dass die Etablierung einer „wehrhaften“ Disziplinarpraxis, die Gesinnung über Leistung stellt, das eigentliche Sicherheitsrisiko ist. Wer die Justiz politisiert, um die Feinde der Demokratie zu bekämpfen, darf sich nicht wundern, wenn die Feinde der Demokratie diese politisierte Justiz dankend übernehmen.

V. Fazit des fünften Teils

Die Analyse des Disziplinarwesens im „Justiz-Projekt“ ist juristisch fundiert, aber politisch blind auf dem linken Auge. Sie entlarvt die Abhängigkeit der Richter von der Exekutive als systemischen Webfehler, scheut aber vor der konsequenten Lösung zurück: der vollständigen Entkoppelung der Disziplinargewalt von der Regierung.

Stattdessen ergehen sich die Autoren in der Hoffnung auf eine „Kultur der Unabhängigkeit“ und fordern mehr Transparenz und Mitbestimmung. Das ist ehrenwert, aber im Ernstfall wirkungslos. Ein autoritärer Staat lässt sich nicht durch Personalräte aufhalten. Er lässt sich nur durch harte, einklagbare Schranken begrenzen. Dazu gehört, dass Disziplinarverfahren ausschließlich von Gerichten geführt werden dürfen, dass der Begriff des Dienstvergehens auf konkrete Amtspflichtverletzungen beschränkt wird (statt auf schwammige Treuepflichten) und dass der Verfassungsschutz in Personalakten nichts verloren hat.

Das „Justiz-Projekt“ liefert wertvolles Material für eine Reform des Richterdienstrechts. Es zeigt ungewollt, dass die besten Absichten der „Demokratierettung“ den Weg zur Hölle des autoritären Legalismus pflastern können. Wenn wir verhindern wollen, dass Richter wegen ihrer Gesinnung verfolgt werden, müssen wir damit aufhören, Gesinnung zum Kriterium für das Richteramt zu machen – egal, ob es die „richtige“ oder die „falsche“ ist.

Im sechsten und letzten Teil dieser Serie werden wir die Fäden zusammenführen und fragen: Was bleibt vom „Justiz-Projekt“? Ist es der erhoffte Bauplan für eine Trutzburg des Rechtsstaats – oder doch nur der architektonische Entwurf für seinen goldenen Käfig?

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