Der Verlust der Unabhängigkeit – Wie das Bundesverfassungsgericht seine Schutzfunktion verspielt

Manchmal genügen ein paar Worte, um ein tieferliegendes Problem zu entlarven. Ein Zitat von Doris König, Vizepräsidentin des Bundesverfassungsgerichts, vermittelt genau diese Einsicht: „Viele Menschen scheinen von der Komplexität der Problemlagen überfordert zu sein, auch von der Rechtslage.“ Ein Satz, der offenlegt, wie weit einige der höchsten Richterinnen und Richter unseres Landes vom Volk entfernt sind – und vor allem, was sie vom mündigen Bürger halten. Doris König ist keine gewöhnliche Stimme im Chor der Hochnäsigen; sie ist die Spitze des Zweiten Senats des höchsten deutschen Gerichts. Eine Institution, die geschaffen wurde, um den Bürger vor staatlicher Übermacht zu schützen. Doch König scheint einen anderen Kurs eingeschlagen zu haben – einen, der den Schutz der Grundrechte nicht mehr im Mittelpunkt sieht, sondern im Zweifel auf die Macht der Regierung vertraut. In einem Interview mit der „ Rheinischen Post “ äußert sie: „Denken Sie an die Corona-Rechtsprechung, die ich absol

Reformbaustelle Deutschland - Teil 1: Stärkung der richterlichen Unabhängigkeit und Integrität

Nachdem zuletzt eine Polemik über eine verfaulende und verfilzende Republik im Blog erschien, folgt heute der erste Beitrag in Richtung einer Genesung des Staates. Dieser erste Teil widmet sich der Stärkung der richterlichen Unabhängigkeit und Integrität.

Aktuelle Probleme bei der Beeinflussung von Richtern

Die Unabhängigkeit der Justiz ist ein tragendes Prinzip des Rechtsstaats und in Art. 97 des Grundgesetzes verankert. Doch immer wieder gibt es Anzeichen dafür, dass die Unabhängigkeit der Richter in Deutschland nicht umfassend gewährleistet ist (vgl. Wittreck, 2020/22, m.w.N. - kritisch gegen die von Wittreck vetretenen Thesen: Steinbeis). Insbesondere die Einflussnahme der Exekutive auf Beförderungen und Karrieren von Richtern steht in der Kritik. In diesem Beitrag soll untersucht werden, wo die aktuellen Probleme bei der Beeinflussung von Richtern durch die Exekutive liegen, wie andere Länder die Unabhängigkeit ihrer Justiz sicherstellen und welche Reformen in Deutschland nötig wären, um die richterliche Unabhängigkeit und Integrität zu stärken. Auch mögliche verfassungsrechtliche Anpassungen werden diskutiert.

Das deutsche Justizsystem steht immer wieder in der Kritik, weil die Unabhängigkeit und Integrität der Richter nicht ausreichend gewährleistet sei. Ein Hauptproblem liegt darin, dass über Beförderungen und berufliches Fortkommen von Richtern in den meisten Bundesländern die Justizministerien entscheiden. Diese sind Teil der Exekutive und unterliegen somit politischen Einflüssen. Kritiker sehen darin die Gefahr, dass Richter sich in ihren Entscheidungen an den Erwartungen der Politik orientieren, um keine Nachteile für ihre Karriere befürchten zu müssen. Auch könnten bei Beförderungen Richter bevorzugt werden, die der Regierungspartei nahestehen oder im Sinne der Exekutive entscheiden. Eine solche Einflussnahme der Politik würde die richterliche Unabhängigkeit untergraben. Tatsächlich gibt es immer wieder Berichte über fragwürdige Beförderungspraktiken in der Justiz. So warf 2019 ein pensionierter Richter des Landgerichts Hamburg der dortigen Justizsenatorin vor, bei der Besetzung von Führungsposten in der Justiz nach Parteibuch entschieden zu haben. Die Senatorin bestritt dies, räumte aber ein, dass es in der Justiz ein "Beziehungsgeflecht" gebe (Rath, 2019). Auch eine Studie der Universität Hannover von 2016 fand Hinweise auf eine "politische Steuerung der Justiz". Bei einer Befragung von über 1.000 Richtern und Staatsanwälten in Niedersachsen gaben 31 Prozent an, bei Beförderungen seien "häufig" oder "sehr häufig" sachfremde Kriterien entscheidend. 14 Prozent berichteten von "Anweisungen oder Empfehlungen" zu Verfahren oder Urteilen durch Vorgesetzte (Schöbener & Staudt, 2016, S. 12-13). 

Ein weiteres Problem ist die lange Dauer der Probezeit für Richter von bis zu fünf Jahren. In dieser Zeit sind Richter noch nicht auf Lebenszeit ernannt und können bei mangelnder "Bewährung" entlassen werden. Kritiker sehen darin ein Druckmittel der Justizverwaltung und eine Gefahr für die innere Unabhängigkeit junger Richter (Gnisa, 2017). Die Deutsche Richterzeitung beklagte 2019 in einem Beitrag die richterliche Unabhängigkeit in Deutschland. Neben der exekutiven Personalhoheit wurde dabei u.a. die Budgethoheit der Justizverwaltungen genannt. Gerichte seien in ihrer Ausstattung und ihrem Budget von den Justizministerien abhängig, was die Unabhängigkeit beeinträchtigen könne (Rebehn, 2019). Die genannten Studien und Berichte deuten darauf hin, dass die Unabhängigkeit der Justiz in Deutschland nicht immer ohne Einschränkungen gewährleistet ist. Doch wie sieht dies in der Praxis aus? Im Folgenden sollen einige konkrete Fälle möglicher Einflussnahme auf Richter näher beleuchtet werden. Ein prominentes Beispiel ist der Fall einer Richterin am Landgericht Münster. Im Jahr 2013 hatte sie in einem Sorgerechtsverfahren entschieden, ein Kind aus einer muslimischen Familie in einer christlichen Pflegefamilie unterzubringen. Dies führte zu heftigen Protesten von muslimischen Verbänden. Das NRW-Justizministerium versetzte die Richterin daraufhin an eine Zivilkammer und entzog ihr Medienberichten zufolge ohne Absprache Verfahren. Die Richterin sah darin einen Verstoß gegen die richterliche Unabhängigkeit und klagte gegen das Land NRW. Das Oberlandesgericht Hamm gab ihr 2017 teilweise Recht. Es sah zwar keinen Verfassungsverstoß, aber einen Verstoß gegen das Gebot der Achtung und Rücksichtnahme gegenüber einer unabhängigen Richterin (Budras, 2017; OLG Hamm, 2017). Der Fall zeigt, wie öffentlicher Druck und politische Erwägungen dazu führen können, dass die Justizverwaltung in die Unabhängigkeit einzelner Richter eingreift. Auch wenn dies hier gerichtlich teilweise korrigiert wurde, bleibt ein Geschmack von unsachgemäßer Einflussnahme.

Ein anderes Beispiel betrifft die Besetzung von Spitzenpositionen in der Justiz. Im Jahr 2011 stand in Niedersachsen die Neubesetzung der Präsidentenposten am Oberlandesgericht Celle und am Landgericht Hannover an. Doch die Justizministerin verzögerte die Ausschreibung um mehrere Monate, bis ein CDU-Parteimitglied und Ministerialdirigent aus ihrem Haus die Voraussetzungen für die Bewerbung erfüllte. Dieser wurde dann prompt auf einen der Posten berufen. Der Richterverein und die Opposition kritisierten dies als "Parteibuchwirtschaft" (Wittrock, 2011). Auch anderswo gibt es immer wieder ähnliche Fälle. So warf 2015 der Richterverband Schleswig-Holstein der damaligen Justizministerin Anke Spoorendonk (SSW) vor, bei der Besetzung der Bundesrichterstellen "parteipolitische Interessen" über die fachliche Qualifikation zu stellen. Ein von der Landesregierung nominierter Kandidat für den Bundesgerichtshof wurde als fachlich ungeeignet kritisiert, hatte aber gute Verbindungen zur SPD (dpa/lno, 2015). Diese Fälle illustrieren, dass bei Versetzungen und Beförderungen in der Justiz nicht immer nur fachliche Kriterien ausschlaggebend sind, sondern mitunter sachfremde Erwägungen und politische Seilschaften eine Rolle spielen. Dies kann zu einer mittelbaren Einflussnahme auf Richter führen, die dann befürchten müssen, bei "falschen" Entscheidungen Nachteile zu erleiden.

Psychologische Aspekte und Anpassungseffekte

Doch nicht nur direkte Eingriffe in Entscheidungen oder Karrieren können die richterliche Unabhängigkeit beeinträchtigen. Auch subtilere psychologische Effekte können dazu führen, dass Richter sich in vorauseilendem Gehorsam an den vermuteten Erwartungen der Exekutive orientieren. Die bereits erwähnte Studie aus Niedersachsen fand Hinweise auf solche Anpassungsprozesse. So gaben 40 Prozent der befragten Richter an, die Unabhängigkeit der Justiz sei durch "subtile Einflussnahmen" gefährdet. 19 Prozent berichteten von einem "Anpassungsdruck durch die Dienstaufsicht" (Schöbener & Staudt, 2016, S. 12-13). Das heißt, viele Richter nehmen unterschwellig wahr, dass von ihnen erwartet wird, sich systemkonform zu verhalten und keine Entscheidungen zu treffen, die der Exekutive missfallen könnten. Psychologisch lässt sich dies mit dem Konzept der "vorauseilenden Konformität" erklären. Menschen neigen oft dazu, sich an wahrgenommene Erwartungen und Normen ihres Umfelds anzupassen, auch ohne dass ein expliziter Druck ausgeübt wird. Sie wollen soziale Anerkennung erlangen und Nachteile vermeiden (Asch, 1956). Für Richter kann dies bedeuten, dass sie unbewusst Entscheidungen treffen, von denen sie glauben, dass sie von der Exekutive positiv gesehen werden - selbst wenn dies ihrer unabhängigen Überzeugung widerspricht. Verstärkt werden kann dieser Effekt durch die lange Dauer der Probezeit und die Abhängigkeit von der Exekutive bei Beurteilungen und Beförderungen. Junge Richter lernen so von Beginn an, sich in das System zu fügen und keine Konflikte zu riskieren. Wer auf eine Karriere in der Justiz hofft, wird es vermeiden, negativ aufzufallen. So kann schon früh eine Kultur der Anpassung entstehen, die die innere Unabhängigkeit der Richter untergräbt. Auch die in der Justiz verbreitete Praxis der Beurteilungsrichtlinien und Erledigungsstatistiken kann problematisch sein. Richter stehen dabei unter Druck, möglichst viele Fälle in kurzer Zeit zu bearbeiten. Wer aus der Reihe tanzt und sich mehr Zeit für gründliche Erwägungen nimmt, riskiert schlechtere Beurteilungen (Schulze-Fielitz, 2012). Auch dies kann dazu führen, dass Richter sich eher an Vorgaben halten, als unabhängig zu entscheiden. All diese psychologischen Faktoren sind schwer zu greifen und nachzuweisen. Sie können aber im Zusammenspiel eine Atmosphäre erzeugen, in der die innere Unabhängigkeit der Richter leidet und eine vorauseilende Anpassung an die Erwartungen der Exekutive stattfindet. Dies ist umso problematischer, als es oft unbewusst geschieht und nach außen den Anschein der Unabhängigkeit wahrt.

Zwischenfazit

Die nähere Betrachtung zeigt, dass die richterliche Unabhängigkeit und Integrität in Deutschland durchaus Gefährdungen und Einschränkungen unterliegt. Sowohl direkte Eingriffe der Exekutive als auch subtilere psychologische Anpassungseffekte können dazu führen, dass Richter nicht immer frei von sachfremden Erwägungen entscheiden. Insbesondere die Personalhoheit der Justizministerien, lange Probezeiten und die Abhängigkeit von dienstlichen Beurteilungen bergen die Gefahr einer politischen Einflussnahme auf die Justiz. Auch wenn die meisten Richter sicherlich bemüht sind, unabhängig und nur dem Gesetz verpflichtet zu entscheiden, können die genannten Faktoren zu einer Kultur der Anpassung und vorauseilenden Konformität führen. Um die richterliche Unabhängigkeit zu stärken, reicht es daher nicht aus, nur auf die persönliche Integrität der Richter zu vertrauen. Es braucht auch institutionelle Reformen, die die strukturellen Gefährdungen der Unabhängigkeit abbauen. Wie dies aussehen könnte, soll im Folgenden anhand eines Blicks auf andere Länder erörtert werden.

Modelle zur Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit in anderen Ländern

Im internationalen Vergleich zeigt sich, dass es verschiedene Modelle gibt, um die Unabhängigkeit der Justiz zu gewährleisten. Dabei lassen sich grob zwei Ansätze unterscheiden: die Selbstverwaltung der Justiz durch Richterwahlausschüsse und eine strikte Gewaltenteilung mit einem starken Verfassungsgericht (European Commission, 2014; Seibert-Fohr, 2012). Das Modell der Selbstverwaltung findet sich in besonders ausgeprägter Form in Italien und Spanien. Dort werden alle Entscheidungen über Auswahl, Beförderung und Disziplinierung von Richtern von einem Richterrat getroffen, der mehrheitlich mit gewählten Richtern besetzt ist. Auch die Budgethoheit liegt bei der Judikative selbst. Die Exekutive hat somit keinerlei Einfluss auf Personalentscheidungen in der Justiz (Oberto, 2012; Torres Pérez, 2012). Allerdings ist dieses Modell nicht frei von Kritik. So wird bemängelt, dass die starke Autonomie der Justiz zu einer Abschottung und einem Mangel an Verantwortlichkeit führen kann. Auch die Wahl der Mitglieder des Richterrats ist nicht unproblematisch, da dabei ebenfalls politische Erwägungen eine Rolle spielen können (Guarnieri, 2012). Das Modell der strikten Gewaltenteilung ist besonders in den USA ausgeprägt. Dort ernennt der Präsident die Bundesrichter auf Lebenszeit, der Senat muss aber zustimmen. Die Gerichte haben volle Budgethoheit und es gibt keine Ministerialaufsicht über die Justiz. Zudem spielt der Supreme Court als Verfassungsgericht eine starke Rolle als Kontrollinstanz (Seibert-Fohr, 2012). Allerdings ist auch dieses System nicht perfekt. Die Ernennung der Richter ist oft stark politisiert und abhängig von den jeweiligen Mehrheitsverhältnissen. Auch der Supreme Court ist davon nicht frei, wie umstrittene Berufungen der der jeweiligen Verfassungsrichter immer wieder zeigen (Hulse, 2020).

In Deutschland wäre eine komplette Selbstverwaltung der Justiz nach italienischem oder spanischem Vorbild wohl nicht ohne Weiteres umsetzbar, da dies eine grundlegende Änderung des Grundgesetzes erfordern würde. Denkbar wäre aber eine schrittweise Stärkung der richterlichen Selbstverwaltung, etwa durch eine Ausweitung der Kompetenzen der Richterwahlausschüsse und eine Einschränkung der Ministerialaufsicht. Auch eine Stärkung des Bundesverfassungsgerichts als Kontrollinstanz gegenüber den anderen Gewalten könnte die richterliche Unabhängigkeit fördern. Dazu müsste die Auswahl der Verfassungsrichter transparenter und weniger politisch erfolgen, etwa durch die Einführung öffentlicher Anhörungen wie in den USA. Letztlich gibt es kein perfektes Modell, das sich einfach auf Deutschland übertragen ließe. Jedes System hat seine Vor- und Nachteile und ist eingebettet in spezifische historische und kulturelle Kontexte. Dennoch kann der Blick über den Tellerrand wichtige Impulse geben, wie die richterliche Unabhängigkeit institutionell gestärkt werden könnte.

Vorschläge für Reformen in Deutschland zur Stärkung der Unabhängigkeit und Integrität

Auf Basis der bisherigen Analysen lassen sich verschiedene Vorschläge formulieren, wie die richterliche Unabhängigkeit in Deutschland besser geschützt werden könnte. Diese betreffen sowohl die Personalauswahl und Beförderung von Richtern als auch ihre Arbeitsbedingungen und die Kontrollmechanismen. Ein erster wichtiger Schritt wäre es, die Personalhoheit der Justizministerien einzuschränken und die Rolle der Richterwahlausschüsse zu stärken. Diese sind bisher nur bei der Ersternennung von Richtern involviert und haben dabei auch nur ein eingeschränktes Vorschlagsrecht. Ihre Kompetenzen könnten ausgeweitet werden auf Beförderungen, Versetzungen und disziplinarische Maßnahmen. Auch eine paritätische Besetzung mit Richtern, Parlamentariern und externen Experten wäre sinnvoll, um Einseitigkeiten zu vermeiden (Deutscher Richterbund, 2019; Rath, 2019). Um den Einfluss der Exekutive weiter zu begrenzen, sollten die Justizministerien verpflichtet werden, freie Stellen öffentlich und transparent auszuschreiben. Die Auswahlkriterien müssten rein fachlicher Natur sein und nachvollziehbar dokumentiert werden. Auch die Beurteilungspraxis in der Justiz müsste reformiert werden, um den Erledigungsdruck zu reduzieren und inhaltliche Aspekte stärker zu berücksichtigen (Schulze-Fielitz, 2012). Die Unabhängigkeit junger Richter könnte gestärkt werden, indem die Probezeit verkürzt oder ganz abgeschafft wird. International ist eine so lange Probezeit wie in Deutschland unüblich (Seibert-Fohr, 2012). Stattdessen könnten Richter direkt auf Lebenszeit ernannt werden, verbunden mit einer gründlichen Evaluation und Begleitung in den ersten Berufsjahren. Auch die Budgethoheit der Gerichte müsste ausgebaut werden, um die Abhängigkeit von der Exekutive zu verringern. Die Justizhaushalte sollten von den Parlamenten beschlossen und von den Gerichten selbst verwaltet werden. Nur so kann eine angemessene Ausstattung der Justiz gewährleistet werden, ohne dass sachfremde Erwägungen einfließen (Deutscher Richterbund, 2019). Schließlich braucht es wirksame Kontrollmechanismen, um mögliche Verletzungen der richterlichen Unabhängigkeit aufzudecken und zu ahnden. Das Bundesverfassungsgericht könnte hier eine stärkere Rolle spielen, indem es Beschwerden von Richtern gegen unangemessene Einflussnahmen prüft. Auch eine unabhängige Justizaufsicht, die Fehlverhalten in der Justiz untersucht und sanktioniert, wäre denkbar. Diese müsste mit externen Experten besetzt sein und dürfte nicht der Exekutive unterstehen (Rath, 2019). 

Neben den institutionellen Gefährdungen der richterlichen Unabhängigkeit dürfen aber auch die persönlichen Verflechtungen und Interessenkonflikte nicht aus dem Blick geraten. Gerade im Bereich der Finanzkriminalität hatte zuletzt die ehemalige Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker angemahnt, dass Fälle wie der Cum-Ex-Skandal oder aus dem Versicherungsbereich gezeigt haben, dass Nebentätigkeiten von Richtern, der Wechsel in einschlägige Kanzleien (sog. "Drehtüreffekt") problematisch sein können, daneben gehören auch die Befangenheitsregeln überarbeitet. Wenn Richter hohe Nebeneinkünfte aus Tätigkeiten in der Privatwirtschaft erzielen oder nahtlos in Kanzleien wechseln, die häufig in Verfahren mit hoher wirtschaftlicher oder ideeller Bedeutung auftreten, kann dies den Anschein von Interessenkonflikten und Befangenheit erwecken. Ähnliche Risiken entstehen, wenn Richter zu eng mit einer politischen Partei oder mit Verfahrensbeteiligten verbunden sind. Um diese Gefahren zu bannen, sind verschiedene Reformen denkbar: Strengere Regeln für Nebentätigkeiten, verbindliche Karenzzeiten beim Wechsel in die Privatwirtschaft, eine Verschärfung der Befangenheitsvorschriften und erweiterte Transparenzpflichten für Richter.

So sollten Nebentätigkeiten in einschlägigen Unternehmen oder Kanzleien untersagt oder zumindest behördlich kontrolliert werden. Beim Wechsel in die Privatwirtschaft sollten Richter für eine gewisse Zeit keine Tätigkeit in ihrem vorherigen Zuständigkeitsbereich ausüben dürfen. Die Befangenheitsregeln der Prozessordnungen sollten auch geschäftliche, politische oder ideelle Verbindungen erfassen, die Misstrauen gegen die Unparteilichkeit wecken, weil auch diese Gründe dazu geeignet sind, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen. Zudem sollten die Ablehnung erleichtert und die Entscheidung darüber zwingend einem anderen Gericht bzw. Spruchkörper übertragen werden. Und schließlich sollten alle Nebentätigkeiten, Einkünfte und Interessenkonflikte in einem öffentlichen Register transparent gemacht werden. Solche Reformen würden die persönliche Unabhängigkeit und Integrität der Richter stärken, ohne ihre Funktionsfähigkeit zu beeinträchtigen. Sie würden das Vertrauen der Bürger in die Rechtsprechung fördern und den Anschein von Befangenheit vermeiden. Natürlich müssten sie sorgfältig ausgestaltet und mit anderen Verfassungsgütern wie der Berufsfreiheit abgewogen werden. Dennoch erscheint mir eine Verschärfung der Regeln zu Nebentätigkeiten, Drehtüreffekten und Befangenheit dringend geboten. Nur wenn die persönliche und die institutionelle Unabhängigkeit der Richter umfassend geschützt werden, kann die Justiz ihre rechtsstaatliche Aufgabe erfüllen. Daher sollten diese Aspekte in die Reformdebatte einbezogen und konsequent mitgedacht werden.

Verfassungsrechtliche Fragen und Ausblick

Die skizzierten Reformvorschläge werfen auch einige verfassungsrechtliche Fragen auf. So ist die Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer stärkeren Selbstverwaltung der Justiz ist in der Rechtswissenschaft umstritten. Eine prominente Stimme in dieser Debatte ist Fabian Wittreck, der in seinem Buch "Die Verwaltung der Dritten Gewalt" (2006) den Status Quo der Gerichtsverwaltung durch die Exekutive verteidigt. Wittreck argumentiert, dass die Einbindung der Gerichte in die allgemeine Staatsverwaltung historisch gewachsen und verfassungsrechtlich zulässig sei. Sie stelle keinen Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit dar, solange sich die Justizverwaltung auf administrative Aufgaben beschränke. Zudem betont er die Vorteile einer einheitlichen Verwaltung, etwa bei der Ressourcenverteilung. Allerdings erkennt auch Wittreck gewisse Gefahren für die richterliche Unabhängigkeit an, etwa bei Personalentscheidungen. Er plädiert daher für eine begrenzte Selbstverwaltung der Justiz, etwa durch eine Stärkung der Richterwahlausschüsse, lehnt aber eine völlige Loslösung von der Exekutive ab. Im Gutachten für den Deutschen Juristentag 2020/22 untermauerte Wittreck seine Haltung (Wittreck, 2020/22). Aus hiesiger Sicht erscheinen Wittrecks Thesen nur bedingt überzeugend. Sie unterschätzen die strukturellen Risiken der exekutiven Gerichtsverwaltung und übersehen die Reformpotenziale einer stärkeren Autonomie der Justiz, wie sie in anderen Ländern praktiziert wird. Dennoch liefert Wittreck eine differenzierte Analyse der verfassungsrechtlichen Aspekte, die in der Debatte zu berücksichtigen sind. Sein Plädoyer für eine begrenzte Selbstverwaltung der Justiz bei gleichzeitiger Einbindung in die Gesamtverantwortung des Staates ist zumindest diskussionswürdig. Letztlich zeigt die Kontroverse um Wittrecks Thesen vor allem, dass die Frage nach der richtigen Balance zwischen richterlicher Unabhängigkeit und staatlicher Verwaltung nicht einfach zu beantworten ist. Sie erfordert eine sorgfältige Abwägung der Vor- und Nachteile verschiedener Modelle unter Berücksichtigung der jeweiligen Verfassungstraditionen und Rechtskulturen.

Denn die Stärkung der richterlichen Unabhängigkeit ist nicht nur eine Frage der rechtlichen Ausgestaltung, sondern auch eine Frage der politischen Kultur und des gesellschaftlichen Bewusstseins. Es braucht ein Klima, in dem die Unabhängigkeit der Justiz als hohes Gut wertgeschätzt und verteidigt wird - sowohl von der Politik als auch von den Bürgern. Die Politik ist dabei in der Pflicht, die notwendigen Reformen anzustoßen und umzusetzen. Sie darf die Justiz nicht als verlängerten Arm der Exekutive sehen, sondern muss ihre Eigenständigkeit achten und fördern. Dazu gehört auch, dass Angriffe auf die Justiz und Versuche der Einflussnahme klar zurückgewiesen werden. Die Richterschaft selbst muss ebenfalls aktiv werden und für ihre Unabhängigkeit eintreten. Dazu gehört, Fehlentwicklungen und Gefährdungen offen anzusprechen und sich gegen unangemessene Einflussnahmen zu wehren. Auch die kritische Selbstreflexion über die eigene Rolle und mögliche Anpassungseffekte ist wichtig. Nicht zuletzt ist aber auch die Zivilgesellschaft gefragt. Sie muss wachsam sein gegenüber Übergriffen auf die Justiz und diese öffentlich anprangern. Zudem kann sie durch Initiativen und Diskussionen dazu beitragen, das Bewusstsein für die Bedeutung einer unabhängigen Justiz zu schärfen. Der Weg zu einer wirklich unabhängigen Justiz in Deutschland ist noch weit. Es braucht substantielle Reformen, einen langen Atem und das Engagement vieler Akteure. Doch es ist ein Weg, der sich lohnt zu gehen. Denn eine unabhängige und integre Justiz ist ein Grundpfeiler des Rechtsstaats und der Demokratie. Sie zu stärken und zu schützen, ist eine Aufgabe, der wir uns alle stellen müssen.

Fazit

Die nähere Betrachtung hat gezeigt, dass die richterliche Unabhängigkeit und Integrität in Deutschland keineswegs immer so umfassend gewährleistet ist, wie es das Grundgesetz verlangt. Sowohl direkte Eingriffe der Exekutive als auch subtilere Anpassungseffekte können dazu führen, dass Richter nicht frei von sachfremden Erwägungen entscheiden. Um dies zu ändern, braucht es tiefgreifende Reformen: Eine Stärkung der Richterwahlausschüsse, eine Begrenzung der Ministerialaufsicht, eine Verkürzung der Probezeit, mehr Budgethoheit für die Gerichte und wirksamere Kontrollmechanismen. Auch eine Justizkultur, die Unabhängigkeit fördert und verteidigt, muss entwickelt werden. Der Blick auf andere Länder zeigt, dass es durchaus Alternativen zum deutschen Modell gibt. Auch wenn diese nicht eins zu eins übertragbar sind, können sie doch wichtige Impulse geben. Letztlich muss jedes Land seinen eigenen Weg finden, wie es die richterliche Unabhängigkeit am besten schützen kann. Klar ist: Es ist ein weiter und steiniger Weg, der auch Änderungen des Grundgesetzes erfordern wird. Doch es ist ein notwendiger und lohnender Weg. Denn Unabhängigkeit und Integrität der Justiz sind kein Luxus, sondern eine Existenzbedingung des Rechtsstaats. Sie zu wahren und zu stärken, ist unser aller Aufgabe und Verpflichtung. Nur wenn die Richter frei von Furcht und ohne Ansehen der Person urteilen können, kann Gerechtigkeit verwirklicht werden. Nur dann können die Bürger darauf vertrauen, dass allein das Recht und nicht politische Opportunität entscheidet. Und nur dann kann sich eine Gesellschaft sicher sein, dass die Mächtigen nicht über dem Gesetz stehen. Eine unabhängige Justiz ist damit nicht weniger als die Garantin von Freiheit, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit. Sie zu schützen und zu verteidigen, ist eine Aufgabe, der wir uns immer wieder neu stellen müssen - durch institutionelle Reformen, aber auch durch eine wachsame und engagierte Zivilgesellschaft. Der Weg mag noch weit sein, aber er führt zu einem lohnenden Ziel: Einer Justiz, die stark und unabhängig ist, die den Mächtigen auf die Finger schaut und den Schwachen zu ihrem Recht verhilft. Einer Justiz, die nichts anderes im Sinn hat als die Gerechtigkeit und die Wahrung des Rechts. Kurz: Einer Justiz, auf die sich die Bürger verlassen können und nicht von Willkürakten in justizförmlicher Einkleidung mit Dienstsiegel verhöhnt werden.

Quellen:

1. Addicks, H., "Wer befördert, befiehlt. Zur fehlenden Autonomie der rechtsprechenden Gewalt", in: Armbruster, L. et al. (Hrsg.), Grundrechte-Report 2020: Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland, Fischer Taschenbuch, 2020, S. 187-191.

2. Asch, S. E., "Studies of independence and conformity: I. A minority of one against a unanimous majority", Psychological Monographs: General and Applied, 70(9), 1956, S. 1-70.

3. Budras, C., "Versetzung von Münsteraner Richterin war rechtens", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. Januar 2017

4. Deutscher Richterbund, "Stärkung der richterlichen Unabhängigkeit", 2019, https://www.drb.de/positionen/staerkung-der-richterlichen-unabhaengigkeit

5. dpa/lno, "Richter werfen Justizministerin Parteibuchwirtschaft vor", Zeit Online, 8. Januar 2015

6. European Commission, The 2014 EU Justice Scoreboard, 2014

7. Gnisa, J., "Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit", Neue Juristische Wochenschrift, 70(14), 2017, S. 961-965.

8. Guarnieri, C., "Judicial Independence in Europe: Threat or Resource for Democracy?", Representation, 49(3), 2012, S. 347-359

9. Hulse, C., "Amy Coney Barrett Confirmed to Supreme Court", The New York Times, 26. Oktober 2020, https://www.nytimes.com/2020/10/26/us/politics/senate-confirms-barrett.html

10. Oberlandesgericht Hamm, "Pressemitteilung: Oberlandesgericht Hamm gibt Versetzungsklage einer Richterin teilweise statt", 2017

11. Oberto, G., "Judicial Independence in Italy", in: Seibert-Fohr, A. (Hrsg.), Judicial Independence in Transition, Springer, 2012, S. 357-401

12. Rath, C., "Vorwürfe gegen Justizsenatorin: Geht es bei Beförderungen nur nach Parteibuch?", Legal Tribune Online, 26. August 2019

13. Rebehn, U., "Zur Unabhängigkeit der Richter in Deutschland", Deutsche Richterzeitung, 97(5), 2019, S. 162-163.

14. Schöbener, J. & Staudt, S., Unabhängigkeit der Justiz in Niedersachsen, Universität Hannover, Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen, 2016.

15. Schulze-Fielitz, H., "Justiz und Justizverwaltung zwischen Ökonomisierungsdruck und Unabhängigkeit", Deutsches Verwaltungsblatt, 127(18), 2012, S. 1-12.

16. Seibert-Fohr, A. (Hrsg.), Judicial Independence in Transition, Springer, 2012

17. Torres Pérez, A., "Judicial Self-Government and Judicial Independence: The Political Capture of the General Council of the Judiciary in Spain", in: Seibert-Fohr, A. (Hrsg.), Judicial Independence in Transition, Springer, 2012, S. 403-437

18. Wittreck, F., Die Verwaltung der Dritten Gewalt, Mohr Siebeck, 2006.

19. Wittreck, F., "Empfehlen sich Regelungen zur Sicherung der Unabhängigkeit der Justiz bei der Besetzung von Richterpositionen? - Gutachten G zum 73. Deutschen Juristentag", 2020/22, https://damjura.uni-muenster.de/razuna/assets/2/5F18B2BD3BB745F79AE4F401DCB83D88/doc/75CC0989D263429AAF92984C961AEFAD/Gutachtenband_73_DJT.pdf.

20. Wittrock, P., "Richterbund empört über ‚Parteibuchwirtschaft'", Spiegel Online, 4. Oktober 2011

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