Ein Sieg für den Rechtsstaat: Verwaltungsgericht Greifswald erklärt Polizeieinsatz am Wossidlo-Gymnasium für rechtswidrig

Ein Kommentar von Marcus Seyfarth, LL.M. VG Greifswald gibt Schülerin Recht Vor fast genau einem Jahr habe ich an dieser Stelle in  mehreren Beiträgen  über den kontroversen Polizeieinsatz am Wossidlo-Gymnasium in Ribnitz-Damgarten berichtet (auch unter "Schlumpfgate" bekannt). Damals kritisierte ich den von der rot-roten Landesregierung an den Tag gelegten „illiberalen, obrigkeitsstaatlichen Geist“ und mahnte an, dass der Schutz der Verfassung nicht zu einem Bruch mit ebenjener führen dürfe. Die Prognose, dass erst ein Gerichtsurteil der betroffenen Schülerin Genugtuung verschaffen würde, hat sich nun bewahrheitet. Das Verwaltungsgericht Greifswald hat mit seinem Urteil vom 1. Juli 2025 (Az: 2 A 1084/24 HGW) ein klares und unmissverständliches Zeichen für die Grundrechte und gegen staatliche Übergriffigkeit gesetzt. Die Entscheidung des Gerichts: Eine schallende Ohrfeige für die Landesregierung Laut der heute veröffentlichten Pressemitteilung hat das Verwaltungsgericht die s...

Wenn Compiler-Entwickler Richter spielen – was kann da schon schiefgehen? Wie das LLVM-CoC-Komitee seinen eigenen Kodex brach

Teil 1 – Einleitung, Hintergrund und faktische Rekonstruktion

Offener Quellcode ist eine Erfolgsgeschichte der freiwilligen Kooperation von Technik-Enthusiasten und Software-Entwicklern, und doch verweist er in seiner Alltagsrealität auf ein Paradox: Je mehr Menschen sich beteiligen, desto ausgeprägter wird das Bedürfnis nach verbindlichen Umgangsregeln. Weil freies Programmieren längst nicht mehr das Hobby einiger weniger technischer Pioniere ist, sondern ein ökonomisch relevantes Kraftfeld, haben nahezu alle nennenswerten Projekte ­– auch das Compiler-Flaggschiff „LLVM“ – einen sogenannten Code of Conduct eingeführt. Niemand wird bestreiten, dass eine solche Verhaltensrichtlinie dem Grunde nach zweckmäßig ist. Allerdings hebt sie das Projekt aus der Sphäre bloßer kollegialer Gefälligkeiten heraus und setzt an ihre Stelle ein normatives Gefüge, das unweigerlich mit juristischen Kategorien in Berührung kommt. Wer verbindliche Regeln erlässt, muss sich an rechtsstaatlicher Methodik messen lassen, andernfalls degeneriert der Kodex zu einem Herrschaftsinstrument derer, die über die Deutungshoheit verfügen.

Genau dieses Strukturversagen trat im Fall „LLVM Issue #72413“ in voller Schärfe zutage, ein Vorfall, der auf Seylaw näher geschildert wird. Der hiesige Beitrag vertieft die rechtlichen Dimensionen als abschreckendes Beispiel dafür, wie solcherlei Prozeduren zur Konfliktlösung und deren misslungene Umsetzung nicht zu der gewünschten Befriedung sondern zu einer Verschärfung des Konflikts führte.

Der Vorgang begann unscheinbar, nämlich mit der Meldung eines reproduzierbaren Fehlers im Unterprojekt compiler-rt. Ich selbst, Volljurist mit langjähriger Erfahrung im Bereich des Rechts sowie praktischer Beteiligung an freier Software, unterzog mich der Mühe, sämtliche Warnungen und Fehlermeldungen zu sammeln, ein reproduzierbares Skript zu erstellen und die verdächtige Commit-Historie zu durchforsten sowie Möglichkeiten zur Umgehung des Fehlers zu testen. Der natürliche Fortgang eines solchen Vorgangs wäre, dass ein Maintainer den Report entgegennimmt, den Sachverhalt überprüft, den Bug bestätigt und sodann eine Behebung auf den Weg bringt. Genau so sah es zunächst auch aus, bis sich ein Gentoo-Entwickler namens Sam James in die Diskussion einschaltete und – ohne eigene Verifikation – behauptete, das Problem müsse zwangsläufig in meiner Toolchain begründet liegen.

Was wie eine Nebensächlichkeit anmutet, markiert in Wahrheit den ersten Wendepunkt. Denn ab diesem Moment veränderte sich das Machtgefälle: Der ehrenamtliche Melder wurde zum Bittsteller, der etablierte Entwickler zum Torwächter. Als einige Tage später ein weiterer Nutzer den Fehler bestätigte und sogar den verantwortlichen Commit identifizierte, war die Sachlage klar. Dennoch verweigerte der Gentoo-Entwickler eine Korrektur seines voreiligen Verdachts und entzog sich später nach einer Weigerung ein Skript zur Reproduktion des Fehlers an einer Stelle anzupassen der weiteren Mitarbeit mit der lakonischen Bemerkung, er werde das Ticket nun verlassen.

Das wäre in sich schon ein Paradebeispiel für schlechte Community-Kultur, doch die Angelegenheit gewann eine neue Dimension, als sich Eli Schwartz, ein zweiter Gentoo-Entwickler, auf meine zum Ausdruck gekommene Frustration über dieses Verhalten zu Wort meldete. In einer Reihe von Kommentaren, die in ihrem Tonfall zwischen Spott und offener Herabsetzung changierten, sprach er mir erstens jegliche Sachkenntnis ab, zweitens mahnte er, „Leute wie ich“ seien der Grund, weshalb viele Entwickler die Mitarbeit an freier Software frustriert aufgäben, und drittens unterstellte er, mein Einsatz eines KI-basierten Tools sei nichts als „stochastisches Geschwätz“. Damit nicht genug, bot er mir großmütig an, ich könne ihn ja verklagen, wenn ich mich diffamiert fühle. Der Duktus dieser Äußerungen ist für jedermann nachlesbar und war zu keinem Zeitpunkt bestritten.

Spätestens an diesem Punkt war das Fass randvoll, doch ich hielt mich zunächst an das formelle Verfahren und reichte bei der für den Code of Conduct zuständigen Kommission eine Beschwerde ein. Die Entscheidung ließ zwei Monate auf sich warten, und sie war ein Schlag ins Gesicht jedes rechtskundigen Lesers: Nicht die belegten Entgleisungen der beiden Entwickler wurden geahndet, sondern meine Replik, die gewiss scharf, doch nie beleidigend war, galt plötzlich als Verstoß gegen die Prinzipien „be considerate“ und „be kind“. Ich sollte um Entschuldigung bitten, die Gegenseite dagegen blieb unbeanstandet.

Dem geübten Juristen springt sofort das Fehlen jeglicher tragfähiger Begründung ins Auge. Der Ausschuss rekonstruierte den chronologischen Ablauf geradezu mutwillig falsch: Er stellte meine Reaktion in den Vordergrund und blendete aus, dass diese überhaupt erst durch vorherige Angriffe provoziert wurde. Damit verletzte das Gremium den elementaren Grundsatz der Kausalitäts- und Kontextanalyse, wie er jedem angehenden Juristen in den ersten Semestervorlesungen vermittelt wird. Hinzu kam möglicherweise ein Befangenheitsproblem; es liegt hier auf der Hand, dass ein externer Laie sich gegenüber einer Gruppe an Entwicklern entgegensieht, die im ständigen Austausch miteinander stehen. In der ordentlichen Gerichtsbarkeit wären Zweifel an der Unvoreingenommenheit angebracht.

An dieser Stelle sei bereits angedeutet, welch juristische Dimension sich hier auftut. Wer ein Regelwerk mit Sanktionscharakter erlässt, installiert ein Quasi-Gerichtssystem. Daraus erwachsen Pflichten: das Recht auf Gehör, das Recht auf ein unparteiisches Spruchorgan, die Pflicht zur nachvollziehbaren Begründung, die Verpflichtung zur Einhaltung der Verhältnismäßigkeit und elementarer Prozessrechte.  Das zuständige LLVM-Kommitee brach alle dieser Pfeiler. Zugleich erklärte es sein Verfahren für abgeschlossen und stellte die Berufung unter den absurden Vorbehalt, man müsse neue Fakten vorlegen. Damit degradierte das Gremium das Instrument der Rechtsbefehle zu Makulatur, denn selbstverständlich richtet sich eine Berufung in erster Linie gegen die falsche Subsumtion bereits bekannter Tatsachen.

Doch die juristische Fragwürdigkeit endet nicht bei den inneren Verfahrensregeln. Sie strahlt auf das gesamte Ökosystem aus, weil dieselben Entwickler ihre schlechten Manieren wenig später hinter die Grenzen des LLVM-Projekts hinaustrugen. Im Mesa-Projekt – einem ganz anderen Code-Repository – verlinkte Matt Turner aus heiterem Himmel auf die LLVM-Diskussion und diskreditierte meinen dortigen Bug-Report als „net negative“. Eli Schwartz sekundierte umgehend und wiederholte seine Diffamierung. Hier wiederholte sich das Muster: Ein berechtigter Hinweis wird persönlich abgewertet, nicht sachlich diskutiert. Der Maintainer von Mesa sah sich schließlich gezwungen, den Thread zu schließen, um weiteren Schaden abzuwenden. Die Parallele drängt sich auf: Ein Machtzirkel nutzt den Nimbus technischer Kompetenz, um Kritik abzuwehren und Strukturen offener Diskussion zu torpedieren.

All dies wäre bloß ein weiterer trauriger Eintrag in der langen Liste gescheiterter Online-Debatten, wenn nicht der Anschein hinzukäme, dass sich genau dieser Mangel an prozeduraler Redlichkeit zum Leitmotiv des zuständigen LLVM-Ausschusses entwickelt hat. Die Verantwortlichen zeigten sich – höflich formuliert – unbeeindruckt von den aufgezeigten eigenen Fehlleistungen. Sie ignorierten den Befangenheitsantrag, antworteten mit Textbausteinen und verweigerten jede substanzielle Auseinandersetzung darüber, ob ihre Entscheidung in sich logisch oder wenigstens nachvollziehbar sei.

Im professionellen Recht gäbe es jetzt mehrere Stellschrauben: Doch das scharfe Schwert der Außendarstellung – man könnte es Öffentlichkeitsprinzip nennen – hat eine ähnliche Wirkung. Genau deshalb lege ich diesen Vorgang offen, in aller gebotenen Sachlichkeit, aber ebenso in unmissverständlicher Deutlichkeit. Eine Community, die sich durch den Code of Conduct moralische Exzellenz attestiert, darf sich nicht weigern, die eigenen Regeln nach rechtlichen Mindestmaßstäben anzuwenden.

Damit ist der Rahmen für die nachfolgende Analyse gesetzt. Ich werde zunächst das Spannungsverhältnis zwischen privater Autonomie und rechtsstaatlichen Garantien skizzieren, sodann die vier Kardinalfehler des LLVM-Verfahrens aufzeigen und schließlich darlegen, welche Reformschritte notwendig sind, um den Erosionsprozess aufzuhalten. Die Verantwortlichen mögen zur Kenntnis nehmen: Die Grundprinzipien des Prozessrechts sind nicht optional, sondern konstitutiv für jede Form geregelter Entscheidungsfindung.

Teil 2 – Dogmatische Fundamente und systematische Fehleranalyse

Der erste und zugleich größte Irrtum vieler Softwareprojekte besteht darin, den Code of Conduct als bloße Benimmregel misszuverstehen. Tatsächlich errichtet ein solches Dokument ein normatives Mikro-System, das unter dem Blickwinkel der Privatautonomie rechtlich zulässig ist, im Ergebnis aber dieselben Grundmechanismen auslöst, die jede staatliche oder schiedsgerichtliche Entscheidung bindet. Aus der rein juristischen Vogelperspektive stellt der CoC daher eine freiwillige Unterwerfung unter Verfahrenspflichten dar. Diese Pflichten sind nicht minder verbindlich, nur weil kein nationales Gericht sie unmittelbar durchsetzt. Nimmt ein Gremium für sich in Anspruch, verbindliche Urteile zu fällen und Sanktionen auszusprechen, so gelangt es automatisch unter die harsche Lupe jener rechtsstaatlichen Grundprinzipien, die sich seit der Aufklärung herausgebildet haben.

Das erste dieser Prinzipien lautet audiatur et altera pars, der Anspruch auf vollständiges rechtliches Gehör. Historisch betrachtet reicht dieses Postulat bis in das römische Recht zurück; in der Neuzeit wurde es durch die Rezeption im Gemeinen Recht, später in der preußischen Provinzialgesetzgebung und schließlich in Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz positiviert. Die Ratio ist einfach, aber zwingend: Ohne gleichgewichtige Würdigung beider Seiten degeneriert jedes Verfahren zur Farce. Im vorliegenden Fall wurde das Gehörsrecht nur formal, nicht materiell gewährt. Der Ausschuss vernahm zwar die von allen Parteien hinterlegten GitHub-Kommentare, wertete aber offenkundig selektiv. Er stellte meine provokanten, jedoch nicht ehrverletzenden Äußerungen in den Vordergrund und ließ in derselben Entscheidung die deutlich verletzenderen Aussagen des Gegenübers unbeanstandet. Ein Gericht, das so verfährt, käme über die erste Instanz nicht hinaus; sein Urteil würde schon wegen fehlerhafter Tatsachenwürdigung aufgehoben.

Das zweite tragende Element ist die unparteiische Besetzung des Spruchkörpers. Montesquieus Gewaltenteilungsgedanke, das Bild des unbestechlichen Richters, das Verbot der Doppelrolle von Ankläger und Richter – all diese Traditionsstränge kulminieren im Befangenheitsrecht. Das deutsche Zivilprozessrecht normiert in § 42 ZPO, wann ein Richter kraft Gesetzes oder durch begründete Ablehnung ausscheiden muss: nämlich dann, wenn objektiv Gründe vorliegen, die Misstrauen in seine Unparteilichkeit rechtfertigen. Übertragen auf LLVM bedeutet das: Jeder, der in direkter Projektabhängigkeit oder persönlicher Nähe zu den beschuldigten Entwicklern steht, dürfte nicht über deren Verhalten befinden. Genau diese Selbstverständlichkeit blieb indes unberücksichtigt. Der Antrag auf Befangenheit wurde gar nicht näher behandelt.

Drittens verlangt rechtsstaatliche Entscheidungsfindung eine schlüssige, nachvollziehbare Begründung. Das erfordert, dass ein Richterspruch zwingend sich mit den tragenden Argumenten beider Seiten auseinandersetzen muss. Der CoC-Ausschuss verweigerte sich einer Auseinandersetzung mit meinen vorgebrachten Argumenten und stützte seine Entscheidung einseitig auf die Darlegung des betroffenen Entwicklers, die mir gegenüber nicht transparent gemacht wurde. Wo die angemessene Würdigung von Tatsachen und geäußerten Ansichten fehlt oder fehlerhaft ist, regiert Willkür.

Viertens und letztens ist das Gebot der Verhältnismäßigkeit zu nennen. Dieses Prinzip, im Polizeirecht und Verfassungsrecht allgegenwärtig, verlangt eine Abwägung zwischen Zweck und Mittel. Auch ein privates Gremium muss sich fragen, ob die gewählte Sanktion angesichts der Schwere des Vorwurfs angemessen ist, und ob mildere Mittel zur Verfügung stehen. LLVM wählte den paradoxen Weg, denjenigen abzumahnen, der auf Ahndung von objektivem Fehlverhalten beharrte, während es den Urheber grober Polemik verschonte. Ein solches Ergebnis widerspricht jedem Gerechtigkeitsempfinden.

Wer nun einwendet, das alles sei übertriebene Juristerei, möge sich klarmachen: Prozessuale Rechte und eine faire und willkürfreie Würdigung von Tatsachen sind das Bollwerk gegen die Tyrannei der Mehrheit. Friedrich Karl von Savigny, der große Pandektist, formulierte es prägnant, als er sagte, dass der Geist des Rechts sich im Verfahren manifestiere. Wo Verfahren verlottern, verkommt das Recht zur Dekoration der Macht. Der Fall LLVM demonstriert diese Erkenntnis exemplarisch. In dem Moment, in dem das Gremium seine selbstgesetzten Regeln nicht nach rechtsstaatlichem Maßstab anwendet, unterminiert es die eigene Legitimität und sendet ein fatales Signal: Wer im inneren Zirkel sitzt, genießt Narrenfreiheit; wer als Externer Kritik übt, wird sanktioniert.

Die Tragweite dieses Signals darf man nicht unterschätzen. Open Source existiert im Spannungsfeld zwischen freiwilliger Kooperation und meritokratischem Status. Wird das Meritokratie-Versprechen – dass technisches oder organisatorisches Verdienst zählt, nicht Netzwerk-Klüngel – gebrochen, verliert das Projekt seine Anziehungskraft für neue Mitwirkende.

Der Gesamtbefund lautet somit: LLVM hat mit seinem Code-of-Conduct-Verfahren elementare Grundsätze rechtsstaatlicher Entscheidungsfindung verletzt. Diese Verletzung ist nicht randständig, sondern strukturell. Sie betrifft das Gehörsrecht, die Unparteilichkeit, die unzureichende Begründung und das Recht auf effektiven Rechtsschutz – die vier Säulen, auf denen jede legitime Sanktion ruht. Wer diese Pfeiler unterspült, lässt das Haus des Rechts einstürzen.

Teil 3 – Reformagenda: Vom Defizit zur rechtsstaatlichen Prozedur

Wenn ein Verfahren in allen tragenden Kategorien versagt, genügt kein Pflaster; es braucht eine chirurgische Rekonstruktion der gesamten Organisationsstruktur. LLVM hat mit seinem CoC-Ausschuss ein Organ geschaffen, das formell als Gerichtssurrogat auftritt, materiell jedoch die Standards missachtet, die spätestens seit dem späten 19. Jahrhundert als unverrückbar gelten.

Erster Anknüpfungspunkt ist die Besetzung des Streitgremiums. Solange dieselben Kreise eine Hand am Quellcode und die andere Hand am Sanktionshebel haben, bleibt jeder Spruch potentiell korrumpierbar. Damit meine ich nicht zwingend materielle Bestechlichkeit, sondern die subtilere, aber gefährlichere Loyalitätsverstrickung, die in jeder Gemeinschaft entsteht. Abhilfe schafft einzig die institutionelle Trennung von Entwicklungsverantwortung und Verfahrensaufsicht. Im Arbeitsrecht spricht man von der disziplinarischen Instanz, die nicht identisch sein darf mit der unmittelbaren Vorgesetztenebene. Übersetzt auf Open Source heißt das: Die CoC-Kommission sollte mindestens zur Hälfte aus Personen bestehen, die weder Commit-Zugriff noch Organisationsmacht im Projekt besitzen. Externe Juristen, oder Mediatoren können diese Rolle übernehmen. Ihre Entfernung vom Alltagsbetrieb ist kein Handicap, sondern der Garant für ungetrübtes Urteilsvermögen.

Zweitens bedarf es einer kodifizierten Geschäftsordnung, welche die Verfahrensschritte in Stein meißelt. Der gegenwärtige LLVM-Text begnügt sich mit wohlklingenden Vorsätzen, schweigt aber zu fundamentalen prozessualen Fragen wie: Wie verläuft der Berufungsprozess? In den deutschen Gerichtsordnungen werden solche Fragen klar geregelt, und das aus gutem Grund. Ansonsten mutiert ein Spruchkörper zum Steigbügelhalter situativer Interessen. Der Missbrauch ist vorprogrammiert.

Drittens muss eine doppelte Kontrollinstanz installiert werden. Ein einmaliges Review durch denselben Ausschuss, der das Originalurteil gefällt hat, ist eine Farce – vergleichbar mit der Vorstellung, ein Richter möge seine eigene Berufungsinstanz bilden. Das Grundgesetz sieht daher in Art. 19 Abs. 4 einen effektiven Rechtsschutz vor, der durch Instanzen und Revision gewährleistet wird. LLVM sollte analog ein externes Beschwerdeboard etablieren, das nur im Berufungsfall tätig wird. Es kann schiedsgerichtlich besetzt sein, aber rechtlicher Sachverstand und Unabhängigkeit sind unabdingbar. Erst wenn eine übergeordnete Stelle die Befugnis hat, Entscheidungen aufzuheben, entsteht das notwendige Korrektiv gegen Blind- und Starrsinn.

Vierter Reformbaustein ist die Veröffentlichungspflicht der Entscheidungsgründe und der Schriftsätze beider Seiten. Wer Sanktionen ausspricht, greift in die Reputation des Betroffenen ein, also in ein vermögenswertes Gut. Der soziale Status als Contributor ist eine Ressource, auf der künftige Kooperationen und guter Willen der Zusammenarbeit beruhen. Geheimjustiz ist daher tabu. Jedenfalls der argumentative Kern jeder Entscheidung gehört ins Licht der Öffentlichkeit. Erst dort offenbart sich, ob das "Richter-Gremium" angemessen geurteilt hat oder willkürlich.

Fünftens ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zwingend in die Sanktionspraxis einzubauen. Wer eine verbale Entgleisung mit dauerhafter Commit-Sperre ahndet, verletzt das Übermaßverbot; wer hingegen systematische Herabwürdigung ungerügt passieren lässt, verstößt gegen den Gleichheitsgrundsatz. Ein abgestufter Sanktionskatalog schafft hier Abhilfe: Verriegeln des Threads, Verwarnung des Verletzters, temporäre Read-only-Stellung der Betroffenen, Mediation, letztlich Ausschluss. Die Leitplanke ist der Leitgedanke „mildestes effektives Mittel“. Dieses Kriterium stammt aus dem Polizeirecht, besitzt aber universelle Gültigkeit. Ein Gremium, das sich dazu bekennt, reduziert den subjektiven Eindruck von Willkür und stärkt das Vertrauen potenzieller Hinweisgeber.

Ein sechster, oft unterschätzter Aspekt betrifft die Schulung der Ausschussmitglieder. Technische Brillanz garantiert kein Verständnis für Verfahrensgerechtigkeit. Juristische Grundkenntnisse sind nicht schwieriger zu erlernen als die Grundlagen der Compiler-Optimierung, nur sitzen sie in einer anderen Gehirnregion.

Damit komme ich zum siebten und letzten Reformvorschlag: der prozeduralen Einbindung der Öffentlichkeit. Rechtsstaatliches Denken fußt auf dem Symbol der offenen Gerichtsverhandlung, denn nur sie diszipliniert die Entscheidungsinstanz durch das Stigma möglicher Blamage. Auch ein Online-Projekt kann dieses Prinzip adaptieren, indem es Transkripte ohne Verzögerung veröffentlicht. Wer weiß, dass sein Spruch auf dem Silbertablett der öffentlichen Kritik landet, wählt seine Worte mit Bedacht und achtet auf argumentative Sauberkeit.

In Summe skizzieren diese sieben Punkte eine Reformagenda, die weder akademisch noch utopisch ist, sondern sich bewährt hat – etwa in Schiedsverfahrensordnungen oder in Kammern der freien Berufe. LLVM muss das Rad also nicht neu erfinden; es muss lediglich die verfügbaren Blaupausen adaptieren. Die Alternative lautet Status quo – und der Status quo steht, wie der geschilderte Vorgang beweist, für Dysfunktion auf allen Ebenen.

Wer jetzt einwendet, der Aufwand sei unverhältnismäßig, verkennt das ökonomische Gewicht von Vertrauen in Open Source. LLVM ist ein Grundpfeiler der modernen Toolchains, von Smartphone-Betriebssystemen bis zu Hochleistungsrechnern. Mit willkürlichen Entscheidungen werden externe Nutzer abgeschreckt sich einzubringen. Ein Rufschaden für das Projekt, ausgelöst durch fortgesetzte Verfahrenswillkür, hat den Charakter eines systemischen Risikos. Betroffene Nutzer wenden sich anderen Projekten zu, Unternehmen werden ihre finanzielle Unterstützung überdenken, etc. Prävention ist deshalb nicht nur moralisch, sondern betriebswirtschaftlich geboten.

Abschließend sei der Blick noch einmal auf den Einzelfall zurückgeführt. Issue #72413 wird von manchen vielleicht als persönliche Fehde abgetan. In Wahrheit fungiert er als Lackmustest für die Frage, ob sich ein Prestige-Projekt der Open-Source-Szene den Mindeststandards zivilisierter Streitkultur unterwirft oder in die Bequemlichkeit oligarchischer Selbstzufriedenheit entgleitet. Ich habe meinen Befund öffentlich gemacht, weil interne Wege verbaut waren. Öffentliches Licht ist das Desinfektionsmittel der Demokratie, wie ein amerikanischer Bundesrichter sagte – und diese Einsicht gilt erst recht für Open-Source-Communities, deren Stärke aus dem freiwilligen Zulauf einer globalen Entwicklerschaft erwächst. Die Tür zur Reform steht offen; ob LLVM hindurchgeht, entscheidet über das Ansehen eines der bedeutendsten Compiler-Frameworks unserer Zeit.

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