Ein Urteil als Menetekel für den Rechtsstaat - "Wehrhafte Demokratie" als Alibi für staatliche Übergriffe im politischen Meinungswettkampf

Mit seinem Urteil VGH O 11/24 vom 2. April 2025 hat der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz die Büchse der Pandora geöffnet. Was auf den ersten Blick wie eine gerichtliche Einzelfallentscheidung über die Zulässigkeit von Politikeräußerungen erscheinen mag, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als ein fundamentaler Angriff auf die Grundprinzipien unseres freiheitlichen Verfassungsstaates. Dieses Urteil billigt nichts weniger als den Einsatz staatlicher Machtmittel und Autorität im politischen Meinungskampf gegen eine Oppositionspartei. Es ist ein Offenbarungseid richterlicher Zurückhaltung und ein fatales Signal, das die ohnehin prekäre Balance zwischen Staatsräson und Parteienwettbewerb weiter zugunsten eines übergriffigen, sich selbst erhaltenden Parteienstaates verschiebt. Die vielbeschworene „wehrhafte Demokratie“ dient hier als fadenscheiniger Vorwand für eine Praxis, die dem Wesen eines neutralen, dem Bürger verpflichteten Staates Hohn spricht.

Die Neutralitätspflicht – Vom unverhandelbaren Fundament zur disponiblen Nebensache

Das Herzstück eines jeden fairen demokratischen Wettbewerbs ist die strikte Neutralität des Staates gegenüber den konkurrierenden politischen Parteien. Dieses Gebot ist keine bloße Formsache, sondern eine unverzichtbare rechtsstaatliche Garantie. Es soll sicherstellen, dass Wahlen und der politische Willensbildungsprozess als freier Wettbewerb der Ideen und Konzepte stattfinden können, ohne dass der Staat mit seinen überlegenen Ressourcen – finanziell, personell, kommunikativ – zugunsten oder zulasten einer bestimmten politischen Kraft eingreift. Der Staat ist der Schiedsrichter, nicht der Mitspieler.

Der VGH Rheinland-Pfalz kehrt dieses Prinzip in sein Gegenteil. Zwar wird die Neutralitätspflicht pflichtschuldig erwähnt (Rn. 31 ff.), doch sie wird im entscheidenden Moment durch eine vermeintliche „Schutzpflicht“ für die FDGO relativiert und faktisch ausgehebelt (Rn. 36 ff.). Die Neutralität wird damit von einer tragenden Säule der Verfassungsordnung zu einer disponiblen Größe degradiert, die je nach politischer Opportunität und unter Berufung auf vage Gefahrenszenarien beiseitegeschoben werden kann. Dies öffnet der Willkür Tür und Tor. Wenn die Regierung selbst definieren darf, wann die „Gefahr“ groß genug ist, um die Neutralität aufzugeben und aktiv gegen die Opposition vorzugehen, dann kontrolliert nicht mehr das Recht die Macht, sondern die Macht instrumentalisiert das Recht für ihre Zwecke. Der von mir seit Jahrzehnten kritisierte Parteienstaat, in dem die regierenden Parteien den Staat als ihre Beute betrachten, feiert hier einen weiteren, bedenklichen Triumph – abgesegnet durch die Justiz.

Die „Wehrhafte Demokratie“ – Ein missbrauchter Begriff als Alibi für staatliche Übergriffe

Zweifellos muss sich eine Demokratie gegen ihre Feinde verteidigen können. Das Konzept der „wehrhaften Demokratie“, eine Lehre aus dem Scheitern Weimars, ist im Grundgesetz verankert. Doch seine Anwendung durch den VGH RLP pervertiert diesen Gedanken. Die Verteidigung der Verfassung ist primär Aufgabe unabhängiger Instanzen und erfolgt nach klar definierten rechtsstaatlichen Verfahren. Das schärfste Schwert ist das Parteiverbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht (Art. 21 Abs. 4 GG), das bewusst hohen Hürden unterliegt, um Missbrauch zu verhindern.

Wenn nun aber die Exekutive – die Regierung und ihr nachgeordneter Verfassungsschutz – sich selbst ermächtigt, im politischen Tagesgeschäft eine Partei als „verfassungsfeindlich“ zu brandmarken und öffentlich zu bekämpfen, werden diese Sicherungen umgangen. Die Regierung wird zum Richter über ihren politischen Gegner. Der VGH RLP liefert dafür die Steilvorlage, indem er diesen exekutiven Übergriff unter dem missverstandenen Etikett der „Wehrhaftigkeit“ legitimiert. Statt die verfassungsmäßigen Verfahren zur Verteidigung der Demokratie zu stärken, wird ein paralleler, exekutiv dominierter und kaum kontrollierbarer Mechanismus der politischen Bekämpfung geschaffen. Die „Wehrhafte Demokratie“ wird so vom Schutzschild der Freiheit zum potenziellen Werkzeug autoritärer Tendenzen, bei dem die Regierung definiert, wer als „Feind“ gilt und mit staatlichen Mitteln bekämpft werden darf.

Die unheilige Allianz – Warum der Verfassungsschutz kein neutraler Gutachter ist

Der Kardinalfehler des Gerichts liegt in seiner unkritischen und geradezu devoten Übernahme der Einschätzungen des Verfassungsschutzes (VS) als vermeintlich objektive Tatsachengrundlage (Rn. 52 ff.). Diese Behörden sind jedoch alles andere als neutrale, wissenschaftliche Instanzen. Sie sind Teil der Exekutive, unterstehen der Dienst- und Fachaufsicht der jeweiligen Innenministerien und sind somit direkt dem politischen Einfluss der Regierungsparteien ausgesetzt. Ihre Berichte, Analysen und Einstufungen sind das Ergebnis behördlicher Tätigkeit im Auftrag der Exekutive, nicht unabhängiger Forschung.

Es ist eine rechtsstaatliche Binsenweisheit, dass die Exekutive durch die Justiz kontrolliert werden soll. Wenn aber die Justiz – wie hier der VGH – die Produkte der Exekutive (VS-Berichte) unhinterfragt zur Grundlage ihrer Entscheidung macht und damit staatliche Angriffe auf eine Oppositionspartei rechtfertigt, verkehrt sich dieses Kontrollverhältnis in sein Gegenteil. Die Justiz wird zum Erfüllungsgehilfen, der die exekutive Perspektive und deren Bewertungen lediglich reproduziert und juristisch adelt. Sie gibt ihre kritische Distanz und ihre Prüfungspflicht auf. Die Tatsache, dass auch andere Verwaltungsgerichte VS-Einstufungen bestätigen, ändert nichts an der grundsätzlichen Problematik der politischen Weisungsgebundenheit dieser Behörden und der Gefahr ihrer Instrumentalisierung. Der VGH hätte die VS-Berichte als das behandeln müssen, was sie sind: parteiische Stellungnahmen der Exekutive, die einer besonders kritischen Würdigung bedürfen – nicht als sakrosankte Wahrheit.

Das Ende der Sachlichkeit – Wenn der Staat zur Verleumdung greift

Die Behauptung des Gerichts, die beanstandeten Äußerungen wahrten trotz ihrer Schärfe noch das Sachlichkeitsgebot (Rn. 73 ff.), ist angesichts der verwendeten Sprache schlichtweg unhaltbar. Formulierungen, die einer Partei unterstellen, sie sei „offen rechtsextrem, antidemokratisch, antieuropäisch, toleranz- und freiheitsfeindlich“, sie habe sich „auf’s Pöbeln verlegt“ oder plane die „Vertreibung und Deportation von Millionen Menschen aus rassistischen Motiven“, sind keine „zugespitzten“ Sachinformationen. Sie sind politische Kampfbegriffe, die auf die moralische Vernichtung des Gegners abzielen. Die (gebilligte) Bezugnahme auf den „Faschisten“-Vorwurf setzt dem die Krone auf.

Das Sachlichkeitsgebot verlangt vom Staat, auch in der Auseinandersetzung mit politischen Gegnern, auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben, auf Herabwürdigungen zu verzichten und einen Mindeststandard an Fairness und Objektivität zu wahren. Der Staat darf informieren, er darf warnen – aber er darf nicht verleumden und diffamieren. Genau das aber geschieht hier, und der VGH erteilt dieser Praxis seinen Segen. Er verwechselt die Aufgabe des Staates, sachlich über Gefahren aufzuklären, mit der Lizenz zur staatlich sanktionierten Propaganda und Hetze gegen eine unliebsame politische Kraft. Die Grenzen zwischen legitimer Kritik und illegitimer Verunglimpfung werden hier bewusst verwischt – mit potenziell verheerenden Folgen für die politische Kultur.

Chancengleichheit adé – Der Staat als Wettbewerbsverzerrer

Die Konsequenz dieser Rechtsprechung ist ein massiver und ungerechtfertigter Eingriff in die Chancengleichheit der politischen Parteien (Art. 21 Abs. 1 GG). Wenn höchste Repräsentanten des Staates – die Ministerpräsidentin, die Landesregierung – ihre amtliche Autorität und die staatlichen Kommunikationskanäle nutzen, um eine Oppositionspartei derart negativ zu brandmarken, dann wird der politische Wettbewerb fundamental verzerrt. Es ist ein Kampf mit ungleichen Waffen. Die angegriffene Partei sieht sich nicht nur der Kritik anderer Parteien ausgesetzt, sondern einem geballten Angriff des Staatsapparates selbst, der seine Glaubwürdigkeit und Reichweite in die Waagschale wirft.

Dies zielt klar darauf ab, Wähler zu beeinflussen, Mitglieder und Sympathisanten einzuschüchtern und die öffentliche Wahrnehmung der Partei nachhaltig zu beschädigen. Es ist der Versuch, den politischen Gegner durch staatliche Intervention kleinzuhalten oder gar zu eliminieren – jenseits der dafür vorgesehenen, rechtsstaatlich eingehegten Verfahren wie dem Parteiverbot. Das Gericht wiegt diesen schweren Eingriff in die Grundlagen des demokratischen Wettbewerbs nicht angemessen. Es opfert die Fairness des politischen Prozesses auf dem Altar einer fehlgeleiteten Interpretation der „Wehrhaften Demokratie“.

Schlussfolgerung: Ein Pyrrhussieg für die Demokratie?

Das Urteil des VGH Rheinland-Pfalz mag von manchen als Sieg für die „wehrhafte Demokratie“ gefeiert werden. Doch es ist ein Pyrrhussieg, der die Fundamente ebenjener Ordnung untergräbt, die er zu schützen vorgibt. Indem es die Neutralitätspflicht aushöhlt, die Exekutive übermäßig stärkt, die Justiz zum Abnicker exekutiver Bewertungen degradiert und staatliche Diffamierung legitimiert, beschädigt es das Vertrauen in den Rechtsstaat und die Fairness des demokratischen Prozesses. Es schafft einen gefährlichen Präzedenzfall, der Regierungen künftig ermutigen könnte, noch rücksichtsloser gegen politische Gegner vorzugehen. Es ist zu hoffen, dass diese bedenkliche Entwicklung nicht unwidersprochen bleibt und dass eine wache Öffentlichkeit sowie höhere Instanzen die notwendigen Korrekturen vornehmen, bevor der Schaden für unsere freiheitliche Ordnung irreparabel wird. Der Weg zur Verteidigung der Demokratie führt nicht über die Aufgabe ihrer grundlegendsten rechtsstaatlichen Prinzipien.

Siehe zu dem Thema auch: Tichy's Einblick

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