Zur Reformdebatte des Verfahrens der Richterwahl an Landesverfassungsgerichten - Erwiderung auf die Vorschläge von Juliana Talg und Fabian Wittreck
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Die wissenschaftliche Mitarbeiterin im Thüringen-Projekt des Verfassungsblogs - Juliana Talg (Mitglied der SPD Fürstenfeldbruck) - hat in einem Beitrag "Physiotherapie für die Richterwahl - Wie sich Blockaden lösen lassen" zusammen mit Prof. Fabian Wittreck mehrere Ansätze zur Reform des Verfahrens der Richterwahl an Landesverfassungsgerichten vorgeschlagen, um Blockaden durch extremistische Parteien zu verhindern und gleichzeitig die demokratische Legitimation der Gerichte zu wahren. Obwohl die Vorschläge interessante Ansätze bieten, gibt es einige Schwachstellen, die wir im Folgenden Schritt-für-Schritt darlegen möchten.*
1. Pluralismusschutz und Sperrminorität
- Schwachstelle: Der Beitrag erkennt die Gefahr, dass eine autoritär-populistische Partei mit einer Sperrminorität die Richterwahl blockieren könnte. Er schlägt vor, das Blockaderisiko durch ein abgesenktes Mehrheitserfordernis zu verringern. Allerdings vernachlässigt er die langfristigen Auswirkungen auf den Pluralismusschutz. Eine Absenkung des Mehrheitserfordernisses birgt die Gefahr, dass die ausgewählten Richter nur einer politischen Strömung - nämlich der der für nötig gehaltenen Mehrheit - angehören könnten, was die Unabhängigkeit und Pluralität der Verfassungsgerichte gefährdet.
- Erläuterung: Der Pluralismusschutz ist eines der Kernziele der Zweidrittelmehrheit. Der Beitrag verkennt, dass eine einfache Mehrheit die Einflussnahme extremistischer Parteien ebenso erleichtern würde und könnte zu einer Übernahme des Gerichts führen, falls die Extremisten genug Sitze gewinnen. Daher löst die vorgeschlagene Absenkung des Mehrheitserfordernisses zwar kurzfristig das Blockadeproblem, solange die Mehrheitsverhältnisse für die etablierten Parteien sprechen, setzt aber mindestens langfristig den politischen Pluralismus aufs Spiel, weil die einfache Mehrheit mit ihren Kandidaten am Gericht zu dominieren droht.
2. Amtsfortführung und Blockadeproblem
- Schwachstelle: Der Vorschlag, Amtszeiten der bisherigen Richter bis zur Wahl eines Nachfolgers fortzusetzen oder stellvertretende Mitglieder zuzulassen, könnte in der Praxis zu einer Dauersituation führen, in der keine neuen Richter gewählt werden. Dies würde zwar die Funktionsfähigkeit des Gerichts erhalten, könnte jedoch das Prinzip der demokratischen Legitimation untergraben.
- Erläuterung: Die Amtsfortführung über längere Zeiträume hinweg könnte dazu führen, dass die Richter, die von einer früheren parlamentarischen Mehrheit gewählt wurden, weiterhin im Amt bleiben, obwohl sich die politische Landschaft verändert hat. Dies widerspricht dem Demokratieprinzip, da die Gerichte von einer überholten politischen Mehrheit besetzt blieben, was die Legitimation es Gerichts infrage stellt.
3. Ersatzwahlmechanismus und Schwächung der demokratischen Legitimation
- Schwachstelle: Der Vorschlag eines Ersatzwahlmechanismus, bei dem das Verfassungsgericht selbst mit Zweidrittelmehrheit neue Mitglieder wählt, schwächt die demokratische Legitimation erheblich. Dies wird zwar als Notlösung betrachtet, doch bleibt die Gefahr, dass die Richter in Selbstergänzungsverfahren nicht die nötige demokratische Rückbindung haben.
- Erläuterung: Eine der zentralen Rollen des Parlaments in der Demokratie ist es, Richter des Verfassungsgerichts zu wählen. Diese Aufgabe an ein Gericht selbst zu delegieren, mag in einer Notsituation helfen, löst aber das Grundproblem der fehlenden demokratischen Kontrolle nicht. Das Verfassungsgericht würde dadurch immer mehr zur Selbstbestimmungsinstanz, was in einem demokratischen System problematisch ist, da die richterliche Unabhängigkeit nicht grenzenlos sein sollte. Zudem besteht die Gefahr, dass durch den Ersatzwahlmechanismus Kandidaten gewählt würden, die den politischen Strömungen genehm sind, die bereits am Gericht vertreten sind und dort über eine entsprechende Mehrheit verfügen. Damit würde aber auch der politische Status Quo zementiert werden ohne etwaige Veränderungen im Parlament adäquat abzubilden, weshalb dieser Vorschlag letztlich auch den Pluralismus untergräbt.
4. Das Recht auf den gesetzlichen Richter wird unterlaufen
- Schwachstelle: Der Beitrag weist auf mögliche Konflikte mit dem Recht auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG hin. Der vorgeschlagene Ersatzwahlmechanismus könnte in der Praxis dieses Grundrecht unterlaufen, da ein Verfassungsgericht möglicherweise Richter wählt, die keine hinreichende demokratische Legitimation besitzen.
- Erläuterung: Ein zentraler Aspekt des Rechts auf den gesetzlichen Richter ist, dass dieser auf einer transparenten und demokratisch legitimierten Grundlage ernannt wird. Wenn Richter durch das Gericht selbst gewählt werden, fehlt diese demokratische Rückbindung, was zu entsprechenden Rügen führen könnte. Zudem könnte dies das Vertrauen der Bürger in die Neutralität und Unabhängigkeit des Gerichts weiter untergraben.
5. Unpassender Vergleich mit ausländischen Systemen
- Schwachstelle: Der Beitrag verwendet Vergleiche mit Polen und Ungarn, um die Bedeutung von institutioneller Resilienz gegen autoritäre Einflüsse zu verdeutlichen. Dabei wird jedoch nicht ausreichend darauf eingegangen, dass die Rechtsordnungen dieser Länder sich in wesentlichen Punkten von der deutschen Rechtsordnung unterscheiden.
- Erläuterung: In Polen und Ungarn wurden Verfassungsänderungen und Gerichtssysteme auf eine Weise manipuliert, die mit den deutschen Strukturen kaum vergleichbar ist. Zwar sind Lehren aus anderen Ländern wichtig, aber der Kontext der deutschen Verfassungsgerichte – insbesondere die föderale Struktur und die starken verfassungsrechtlichen Hürden – unterscheidet sich deutlich. Der direkte Vergleich kann daher in die Irre führen und erfordert eine differenziertere Analyse.
6. Langfristige Perspektive
- Schwachstelle: Die vorgeschlagenen Reformen bieten nur kurzfristige Lösungen für das Blockadeproblem, ohne langfristige Auswirkungen oder alle Szenarien ausreichend zu berücksichtigen. Eine dauerhafte Lösung erfordert eine tiefere Auseinandersetzung mit der Rolle der Verfassungsgerichte und ihrer Legitimation im demokratischen System.
- Erläuterung: Der Vorschlag, nach mehreren erfolglosen Wahlgängen eine einfache Mehrheit zuzulassen, könnte dazu führen, dass zukünftige Verfassungsgerichte von extremistischen Kräften unterwandert werden, sobald diese eine einfache Mehrheit erreichen. Ein solcher Mechanismus stellt langfristig die Legitimation und Unabhängigkeit des Gerichts infrage, was die Grundfesten der Demokratie erschüttern könnte.
Fazit:
Der Beitrag enthält einige interessante Vorschläge, jedoch weisen diese z.T. gravierende Schwachstellen auf. Die vorgeschlagenen Reformen, insbesondere die Absenkung des Mehrheitserfordernisses und der Ersatzwahlmechanismus, könnten die demokratische Legitimation der Gerichte langfristig schwächen. Zudem könnte die richterliche Unabhängigkeit durch eine stärkere Selbstergänzung gefährdet werden. Eine tiefere Auseinandersetzung mit alternativen Modellen und den langfristigen Folgen der Reformen wäre notwendig, um eine nachhaltig stabile und demokratische Lösung zu finden, die auch den politischen Pluralismus wahrt.
* Der Autor Marcus Seyfarth, LL.M. war selbst bis Januar 2020 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insb. deutsches und europäisches Verwaltungsrecht von Prof. Ulrich Stelkens an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer tätig und daneben bis 2020 im Umfeld der Union politisch aktiv.